Die Erwartungen an die Künstliche Intelligenz sind oft völlig überzogen, findet der KI-Experte Peter Gentsch. Das gelte auch für den Einsatz von Chatbots. Vorläufig liefen Unternehmen Gefahr, mit einem schlechten Bot ihre Marke und die Kundenbeziehung zu ruinieren. Die Zukunft des Dialogmarketings sieht der Unternehmer, Management-Berater und Hochschullehrer in einer Balance zwischen Automatisierung und menschlicher Aktion.
Woran liegt das? Es ist enorm aufwendig, einen guten Bot zu bauen. Denn er kommt ja sozusagen nackt auf die Welt. Man muss ihm nach und nach erst alles beibringen. So muss er beispielsweise jede Frage, die ihm gestellt wird, einordnen und richtig auf sie reagieren können – entweder mit einer passenden Antwort oder indem er an einen menschlichen Mitarbeiter weitergibt. Dabei kann ja dieselbe Frage auf ganz verschiedene Art und Weise gestellt und auch beantwortet werden. Die muss er alle draufhaben. Dieses umfangreiche Training kostet viel Zeit.
Irgendwann bleiben nicht mehr viele Anlässe übrig, wo Sie ohne Ihren Bot einkaufen möchten.
Peter Gentsch
Gibt es keine Bots von der Stange? So gut wie nicht. Wenn man Glück hat, lässt sich ein Bot einkaufen, der bereits ein Grundgerüst an Kenntnissen und Fähigkeiten mitbringt. Trotzdem muss er dann noch für sein spezielles Einsatzgebiet fit gemacht werden.
Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz dabei? Es wird gern von Künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen geredet, die für gute Bots sorgen sollen. Doch die KI ist noch eine "Weak Intelligence", eine schwache KI. Das heißt, sie lässt sich nur für bestimmte, eng umgrenzte Bereiche einsetzen, aber nicht darüber hinaus. Während jeder Kundenbeziehungs-Manager abstrahieren kann, Analogien bilden und Fragen aus ganz unterschiedlichen Gebieten beantworten, kann das KI heute noch nicht.
Warum sind die Marketer dann von Bots so elektrisiert? Da schwingt viel Hoffnung und Wunschdenken mit. Ein funktionierender Bot verspricht eine schier unerschöpfliche Skalierbarkeit: Er steht den Kunden an allen Tagen im Jahr rund um die Uhr für den Dialog zur Verfügung. Davon sind wir jedoch noch weit entfernt. Ein guter Bot kann heute vielleicht 80 Prozent der Aufgaben lösen. Aber die restlichen 20 Prozent haben es in sich, sie erfordern einen qualitativen Sprung. Das ist Zukunftsmusik.
Für welche Funktionen braucht ein Bot KI, wo hingegen reichen Algorithmen aus? Man kann es so sagen: Um richtige Antworten auf einfache Fragen mit eindeutigen Keywords zu geben, genügen Algorithmen. Aber um die Fragen und Wünsche der Kunden zu verstehen, die den Antworten vorausgehen, wird KI gebraucht. Sprach- und Kontext-Verständnis ist eine komplexe Sache, dafür langen ein großer Datenfundus und einfache Algorithmen nicht aus.
KI wird als ein System definiert, das von sich aus dazulernt. Tut sie das gar nicht, muss man ihr alles erst zeigen? Nein. KI kann tatsächlich von selbst dazulernen. Sie erkennt beispielsweise, welche ihrer Antworten den Kunden eher zufriedenstellen. Denn sie merkt ja, ob der Kunde weiterfragt oder nicht. Daraus zieht sie für das nächste Mal eigenständig Schlüsse. Und aus den Reaktionen darauf erneut. So verbessert sie sich ganz ohne unser Zutun. Aber sie braucht eben eine Menge Trainingsmaterial und genügend Zeit dafür. Bekommt sie beides, erreicht sie schließlich die 80 Prozent.
Wann werden es 100 Prozent? Ich neige gelegentlich zur Euphorie. Doch ich halte es für realistisch, dass wir in zehn Jahren Bots in einer Qualität haben werden, wie wir sie uns heute wünschen. Seit 2018 hat sich die Leistung der KI stärker verbessert als in den sieben Jahrzehnten zuvor. Das liegt natürlich auch an der zunehmenden Digitalisierung der Kommunikation: an den E-Mails, Posts und aufgezeichneten Calls beispielsweise sowie am Datenverkehr an sich. Das alles ist Futter für die KI, das sie auch wunderbar verwertet.
Aber? Die Erwartungen an die KI schießen in den Himmel – sie sind oft maßlos überzogen. Denn die Sprache bleibt komplex, die Kunden auch, als Menschen verfügen wir über Intuition und können gut improvisieren … Die Frage ist, ob wir 100 Prozent Automatisierung überhaupt erreichen wollen. Ist es nicht sinnvoller, eine hybride Kommunikation von Mensch und Maschine zu haben, in der sich die beiden auf intelligente Art die Bälle zuspielen? Klar, um einen Friseurtermin zu vereinbaren, braucht es kein menschliches Gegenüber. Aber es gibt viele Umstände, wo Empathie eine große Rolle spielt.
Das scheinen die Konsumenten – zurzeit jedenfalls – auch so zu sehen. Einer Umfrage zufolge sind sie von den Chatbots wenig begeistert. Sie würden meist lieber mit Menschen sprechen und lassen ihren Ärger und ihre Wut an den Bots aus. Was läuft da schief? Ich führe selbst gerade eine Studie zu diesen Fragen durch. Die ersten Ergebnisse zeigen, dass bei Konsumenten die Bereitschaft grundsätzlich da ist, sich auf Bots einzulassen. Denn sie wollen einen komfortablen Service haben und ihn nutzen können, wenn es ihnen gerade passt. Einen ohne Warteschleifen und auch außerhalb von Bürozeiten. Aber einen kompetenten. Die Wut entsteht durch die miese Qualität vieler Bots. Wenn sie die Anliegen nicht verstehen, unnötige Fragen stellen, ungenügende oder gar dumme und falsche Antworten geben und nicht an einen menschlichen Agenten weiterleiten, wenn sie überfordert sind. Unter solchen Umständen fühlen sich die Anrufer zu Recht nicht ernst genommen und reagieren sauer.
Geht es den Unternehmen gar nicht um besseren Service, sondern um billigen Service? Bevor ein Unternehmen einen Bot auf seine Kunden loslässt, sollte es wissen, dass es mit einem schlechten Bot viel kaputt machen kann. Seine Reputation etwa, seine Marke, die Kundenbeziehung überhaupt. Der Kunde muss, sobald er das möchte, die Möglichkeit haben, mit einem Menschen in Kontakt zu treten. Kann er das nicht, hat das Unternehmen die Themen CRM und User-Experience schlicht nicht verstanden.
Im Dialog von Unternehmen und Kunden werden immer mehr Medien und Technologien eingesetzt. Die reine Beziehung von Mensch zu Mensch existiert praktisch kaum noch. Manchmal werden die Mitarbeiter in den Unternehmen, aber auch die Konsumenten bereits als eine Art Cyborgs betrachtet, also Maschinenmenschen. Sehen Sie das auch so? Die Prozesse in der Kunden-Kommunikation sind schon seit Jahren zu einem großen Teil automatisiert. Denken Sie etwa an Newsletter: Sie werden zu bestimmten Anlässen selbsttätig von Programmen verschickt. Wenn der Empfänger darauf nicht reagiert, erhält er nach einer bestimmten Zeit, ebenfalls von einer Software ausgelöst, eine Erinnerung oder ein aktualisiertes Angebot. Mithilfe von KI wird die Automation verstärkt über den prozessualen Rahmen hinausgehen und auch den direkten Kontakt zwischen Unternehmen und Kunden erfassen. Routine-Aufgaben werden von Programmen erledigt, die wichtigen und erklärungsbedürftigen Themen dagegen bleiben dem persönlichen Austausch vorbehalten.
Nicht nur Unternehmen, auch Konsumenten vertrauen sich zunehmend digitalen Helfern an. Genau. Sie nutzen Alexa und die KI in ihrem Messenger oder künftig in der Zahnbürste und anderen smarten Home-Devices. Damit erweitert sich das Feld des CRM: Es muss nicht länger nur die Menschen ansprechen, sondern auch deren Geräte und Tools. So wird das Marketing post-human.
Hoppla, das geht jetzt etwas fix. Bisher war das Customer-Relationship-Management immer auf den Menschen ausgerichtet mit dem Ziel, ihn bei der Stange zu halten. Mittels Storytelling, Branding, Dialog, Convenience – auf welchem Weg auch immer. Jetzt haben es Unternehmen mehr und mehr mit Bots und Agenten zu tun. Folglich muss sich das CRM zum Bot-Relationship-Management weiterentwickeln, denn ein Unternehmen muss eine Beziehung zum Stellvertreter eines Kunden bekommen.
Wie macht ein Unternehmen das? Es muss in der Kommunikation viel stärker auf Fakten als auf Emotionen setzen. Wenn virtuelle Agenten selbstständig Produkte ordern, interessieren sie sich nicht für Geschichten und Marken, sondern für Tatsachen: Was hat das Produkt zu bieten, was kostet es, wann trifft es ein und so weiter. Aufgrund dieser Kriterien entscheiden sich die Bots. Die Kommunikation mit ihnen ist eine nüchterne Angelegenheit. Auf eine kurze Formel gebracht ließe sich sagen: Convenience schlägt Marke.
Schön. Aber mein Bot ist in meinem Auftrag unterwegs. Spielen Emotionen und Marken auch für den Kunden plötzlich keine Rolle mehr? Doch, natürlich.
Mein Bot ist mein Bote. Er kauft nicht für sich, sondern für mich ein. Wenn er sich selbstständig macht und Dinge anschleppt, die ich gar nicht haben will, kriegt er Ärger mit mir. Muss ein Unternehmen nicht zunächst mal mich von seinem Angebot überzeugen? Ja, klar. Der Bot geht nicht auf Shopping-Tour und kauft irgendwelche Dinge zusammen. Vielmehr wird er Ihnen Vorschläge unterbreiten und aus Ihren Reaktionen lernen. Seine Empfehlungen werden also immer besser werden. Und im Lauf der Zeit werden Sie sich immer weniger einmischen müssen und wollen. Irgendwann bleiben nicht mehr viele Anlässe übrig, wo Sie ohne Ihren Bot einkaufen möchten. Er hat Sie kennengelernt, und Sie haben gelernt, dass Sie ihm vertrauen können.
Sie beschreiben eine Idealvorstellung. Die Wirklichkeit ist meistens komplizierter. Zugegeben. Übrigens ist es ja auch noch gar nicht so, dass jeder seinen eigenen virtuellen Butler hat. Vorerst gehören die Bots Amazon, Apple, Google und Co, die eigene Interessen mit ihnen verfolgen. Worauf ich hinaus will, ist: Beim Bestellen und Kaufen werden Gefühle und Brands künftig kaum noch von Belang sein, weil das weitgehend automatisiert verlaufen wird. Darauf werden sich die Marketer einstellen müssen. Dabei wird sich die Frage, wie sie mit ihren Angeboten ins Relevant Set kommen, neu stellen.
Es gibt bereits künstliche Influencer, die Emotionen und Empathie so lebensnah vortäuschen, dass man sie gar nicht mehr für Programme, sondern für Menschen hält. Wäre das auch eine Option für die Bots? Prinzipiell ginge das. Dann würden die Karten wieder anders gemischt. Doch das berührt natürlich auch ethische Fragen.
Darf man so weit gehen? Ich finde, wir sollten Technik nicht vermenschlichen. Eine Pseudo-Empathie hilft doch nicht, Kundenvertrauen aufzubauen. Unternehmen müssen bei den Chatbots die richtige Balance zwischen Automatisierung und menschlicher Interaktion finden. KI ist für mich eine "Augmented Intelligence", das bedeutet die optimale Unterstützung und Potenzierung der menschlichen Intelligenz durch smarte Algorithmen. Wir sollten KI dafür einsetzen, dass Menschen bessere Entscheidungen treffen und mehr Zeit für die wichtigen Dinge des Lebens haben.
Dieser Artikel ist zuerst im DIALOG erschienen. Die Publikation, die vom
Deutschen Dialogmarketing Verband (DDV) herausgegeben wird, erscheint jedes Quartal und befasst sich vor allem mit den Spielarten des Dialog- und Digital-Marketings, mit Eins-zu-eins-Kommunikation und Zukunftsthemen wie Künstliche Intelligenz. Ein PDF der aktuellen Ausgabe lässt sich hier herunterladen:
www.horizont.net/service/dialog.