Volker Schütz
Rückblick 2016

Das Jahr, in dem viele lernten, das Internet zu hassen

2016 war das Jahr, in dem das Internet und viele seiner Protagonisten mehr Anfeindungen ausgesetzt waren als zum Start des World Wide Web 20 Jahre zuvor. HORIZONT-Chefredakteur Volker Schütz über die Hassgesänge aufs und im Netz, die lahme Ente Paid Content, die PR-Schimäre Content Marketing und den Angriff der Krawattenträger auf die Kreativindustrie.
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1. Facebook und Twitter sind schuld am Wahlsieg Donald Trumps

Wäre das Internet ein Unternehmen, bräuchte es dringend eine Krisenkampagne. Die Imagewerte liegen – gefühlt – tief im Keller. Es gibt derzeit kaum etwas, an dem das  Netz nicht schuld sein soll. An der schlechten Werbung. Am Erfolg der AfD. Am Hass. An der Verachtung der Medien. Am Irrsinn dieser Welt. Am Wahlsieg Donald Trumps.

Je komplizierter die Welt wird, desto einfacher macht man es sich bisweilen.


Aber das Internet ist nicht an Donald Trump beziehungsweise dem, wofür das System Trump steht, schuld. Auch die Werbe-Pop-ups, die jeden nerven, werden nicht vom Internet erzeugt. Es sind immer noch Agenturen, die von ihren Kunden beauftragt (und schlecht bezahlt) wurden, um schlechte Digitalwerbung zu kreieren. Für miese TV-Spots machte man in den 90er Jahren auch nicht TV (oder RTL und Pro Sieben) verantwortlich, sondern die unfähigen Agenturen, die keine Storys erzählen können, und die Kunden, die zu wenig Mut zum kreativen Risiko haben.

Die Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen. Twitter-CEO Jack Dorsey ist nicht der Absender der sexistischen, größenwahnsinnigen und dämlichen Tweets von Donald Trump. Und weder Facebook, Twitter noch Instagram haben die politische (Un-)Kultur hervorgebracht, von der die AfD profitiert. Aber sie bieten die technischen Plattformen, auf denen ziemlich viel guter, aber genauso viel irrsinniger Content kreiert wird.

Kein Mensch wäre in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts auf die Idee gekommen, das Radio für die Nazis verantwortlich zu machen. Warum macht man Facebook und seinen Gründer Mark Zuckerberg quasi persönlich haftbar für die Verrohung des politischen Diskurses – und nicht die, die den Hass predigen?

Dass die mächtigen Chefs der mächtigen US-Internet-Konzerne gut daran täten, mehr gesellschaftspolitische Verantwortung zu tragen, ist eine ganz andere Frage. Sie müssen lernen, Stellung zu beziehen. Damit sind keine Wahlaufrufe für Politiker X oder Politiker Y gemeint. Sergey Brin (Google), Mark Zuckerberg (Facebook), Jack Dorsey (Twitter) und all die anderen Plattform-Chefs müssen ihren Algorithmen „Humanismus“ und „Demokratie“ beibringen. Die Google-Suchmaschine, schreibt „Spiegel Online“, ist ein „Roboter, der keine Ahnung hat, was Rassismus oder Antisemitismus ist“. Und der Facebook-Roboter kann wirkliche Nachrichten nicht von Lügengeschichten unterscheiden. Aber genau das sollte er können.

Schon aus Eigeninteresse müssen Google & Co handeln. Der Wahlsieg Trumps, aber auch der Erfolg von ultrarechten Politikern in Europa, speist sich auch aus einer Angst gegenüber globalen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, für die diese Unternehmen stehen.

Was sich zeigt: Das Internet, das lange als ein Medium gefeiert wurde, das die Welt wieder zu einer Scheibe macht, hat in Wirklichkeit aus dem Planeten Erde ein wild vernetztes Universum gezaubert. Die Büchse der Pandora ist offen, nur weiß keiner, wie er damit umgehen soll. Nach dem Wahlsieg Trumps sollte dem verbohrtesten Nerd klar sein: Mit ein paar Algorithmen alleine lässt sich die Welt nicht besser machen. Leider.

2. Demagogie und Big Data: Die Revolutionierung der Polit-Kommunikation

Wie 2016 hat nicht nur der Hass auf das Netz, sondern auch der Hass im Netz explosionsartig zugenommen. Zwei Ereignisse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, lassen das Schlimmste für den Bundestagswahlkampf 2017 befürchten.

Da ist zum einen der Wahlsieg Donald Trumps. Der Mann, der von den meisten Journalisten viel zu lange als lautstarker, rassistisch-sexistischer, geistig minderbemittelter Milliardär verspottet wurde, hat die politische Kommunikation mit Hilfe der Internets revolutioniert – nicht zum Guten, wohlgemerkt.

Auch in den Wahlkämpfen zuvor spielten Plattformen wie Facebook und Twitter in den USA eine wichtige Rolle, um beispielsweise Obamas Botschaften („Yes, we can“ 2008, „Forward“ 2012) zu vermitteln. Doch diese Kampagnen orientierten sich im Prinzip an klassischen (Polit-)Kampagnen, bei denen ein einzelner Slogan allen Wählern möglichst reichweitenstark präsentiert wurde.

In den letzten vier Jahren haben sich die technologischen Möglichkeiten im Internet dramatisch verändert. Das hat Trumps Team perfekt ausgenutzt. Es wurde nicht eine Message lanciert, sondern je nach Zielgruppe und deren psychologischer  Befindlichkeit wurden zahllose Nanokampagnen lanciert, Fake-News, Manipulations-Schlachtrufe, perfide Verbalausbrüche inklusive.

Banal gesprochen: Trump hat das, was Programmatic Advertising verspricht und ermöglicht (wenn man es nicht nur als automatisierte Aussteuerung von Kampagnen begreift, sondern als Tool, das individualisierte Botschaften lancieren kann), für die politische Kommunikation eingesetzt.

Die meisten von uns werden in den vergangenen Tagen mit offenen Mündern und leicht ungläubig den Text des Schweizer Magazin gelesen haben, in dem detailliert geschildert wird, wie es das ominöse Beratungsunternehmen Cambridge Analytics schaffte, mit einer Facebook-Kampagne Trump zum Wahlsieg zu verhelfen.

Der Text liest sich wie ein Politthriller, gegen den „House of Cards“ wie Kinderprogramm wirkt. Und bei allen Zweifeln an der vermeintlichen Entscheidungsmacht einer einzelnen Netz-Plattform muss man sich eingestehen: Internet-Technologie öffnet die Türen für extrem fokussierte, hoch manipulative und emotionale Polit-Kampagnen. Meine Wette: Ähnlich angelegte Wahlkampfmanöver werden wir 2017 in Deutschland erleben.

Wie schmutzig der Bundestagswahlkampf werden könnte, zeigt sich an anderer Stelle: den Hassausbrüchen gegenüber Gerald Hensel, Executive Strategy Director Digital von Scholz & Friends, und seiner privaten #KeinGeldfürRechts-Initiative. Wenn man sich die zahllosen Beschimpfungen der letzten Tage zu Gemüte führt, hat man den Eindruck: Wutbürger, Trolls, Nationalkonservative und ihre journalistischen Lautsprecher bringen sich jetzt schon für einen Wahlkampf in Stellung, der offiziell noch gar nicht begonnen hat.

Es wird interessant sein zu beobachten, ob es gelingt, auf  den diversen Internet-Plattformen einen halbwegs vernünftigen Diskurs über die politische Zukunft Deutschlands zu führen. Das Internet ist die größte Plattform für Aufklärung, die die Menschheit jemals entwickelt hat. Sie ist aber auch das mächtigste Instrument, das Demagogen, Hass-Rednern und Verschwörungstheoretikern an die Hand gegeben wurde. 

3. Bots, Bubble, Smart Home – das Netz fängt an zu sprechen

Trotz Trump und dem Hass aufs und im Netz hat sich in Digitaldeutschland 2016 Einiges ereignet. Beispielsweise am 27. Oktober 2016. An diesem Tag begann in Deutschland das nächste große Digitalding: Amazon startete den Verkauf seines Smart-Home-Assistenten Echo.

Die jetzt auf den Markt gekommene Version wird in  zehn Jahren so steinzeitlich wirken wie die ersten Websites aus dem Jahr 1994. In der HORIZONT-Redaktion gibt es manche Kollegen, die bei einer internen Vorführung über die in vielen Bereichen dumme Sprachassistentin Alexa gelacht haben. Alexa konnte zwar den Wetterbericht und erklären, was es mit Halloween auf sich hat. Aber bei der Frage: „Alexa, was ist Weihnachten?“ muss die Amazon-Software betrübt eingegestehen: „Das ist eine der Fragen, die ich nicht beantworten kann.“ Inzwischen weiß Alexa (sie lernt dazu, je mehr Nutzer sie einsetzen), was Weihnachten ist.

Geredet wird nicht miteinander, sondern mit dem Computer: Kampagne für Google Home

Schon die Mega-Apps von Facebook und (wenigen) anderen machen die komplizierte Welt des Netzes einfacher und handhabbarer für die Menschen. Sprachassistenten gehen noch einen Schritt weiter. Der Mensch muss nicht mehr mit den Finger arbeiten, um von einer Applikation zur nächsten zu wechseln. Man muss künftig nicht mehr von der Wetter-App zur Nachrichten-App und von dort zum E-Mail-Client wechseln, sondern lässt dies den sprechenden Computer erledigen. Das neue Interface der Mensch-Maschine-Kommunikation – Sprechen statt Tippen – verknüpft zahllose Apps zu einer einzigen Anwendung.

Richtig gut funktionieren diese Systeme freilich nur, je mehr Daten der Nutzer sie haben. Persönliche Daten gelten seit dem Aufkommen der sozialen Medien als die größte Währung im Netz. Sie werden noch wichtiger. Big Brother braucht Big Data. Doch im Gegensatz zu George Orwells Alptraum braucht er keine Soldaten, um die Geschäftsbedingungen durchzusetzen. Das System beruht auf Freiwilligkeit.

Doch es ist gerade diese Freiwilligkeit, die dafür sorgt, dass die Macht der großen Internet-Konzerne noch zunimmt.

Schon jetzt saugen Facebook, Google und Amazon einen Großteil der Internet-Nutzung - und der lebenswichtigen Werbeerlöse - auf. Wenn Google Home oder Amazon Echo erst dem Steinzeit-Alter entwachsen und voll funktionsfähige Services sind, braucht man theoretisch gar nicht mehr das Google- oder Amazon-Imperium zu verlassen, um seinen digitalen Alltag zu organisieren und zu leben.

Noch ein weiterer Aspekt ist wichtig. Die Home-Assistenten, wie Filter und Chatbots sind zugeschnitten auf die individuellen Bedürfnisse des Nutzers. Personalisierung wird eine zentrale Anforderung, die sich in allen Bereichen wiederfindet: Werbung (Targeting, Programmatic Advertising), Services (Chatbots), Politik (Mikrokampagnen), Nachrichten (Filter Bubble).

Das ist nicht per se se schlecht, wie viele der in diesem Jahr so lautstarken Dauerkritiker meinen – im Gegenteil. Die Informationsfülle und -dichte hat mit dem Netz x-fach zugenommen und wird noch weiter zunehmen. Kein Mensch ist in der Lage, zu verarbeiten, was im Laufe von 24 Stunden auf ihn einprasselt. Filter helfen Individuen, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.

Bei allen Warnungen vor der Filter Bubble sollte man nicht vergessen: Selektion gab es schon immer. Vor dem Internet haben Zeitungen und TV diese Selektion vorgenommen – nur dass kein Mensch moniert hat, er lebe in einer Filterblase.

 

4. SAP, IBM & Co: Die Anzugträger sind da

Wenn es im Agentur- und Media-Business etwas gibt, was abseits von Etatveränderungen und vom gesunkenen Agentur-Kunden-Vertrauensverhältnis im Jahr 2016 für besonders viele Diskussionen gesorgt hat, dann ist es die Aggressivität, mit der Unternehmens- und IT-Berater versuchen, den Agenturmarkt aufzumischen.

Vor Big Data war die Konkurrenz zwischen Kommunikationsdienstleistern und Beratern ein mehr herbeidiskutierter als ein realer Konflikt. Nun versprechen Watson, SAP XM, Blackwood Seven die effiziente Verbrüderung von Big Data und Big Ads – ganz zum Wohle der Auftraggeber und der Konsumenten. In den kommenden Monaten wird man genau beobachten müssen, welche Früchte diese Liaison zwischen Algorithmus, Kreation und Media bringen wird. Und wessen Interesse dabei auf der Strecke bleibt.

Digitalwerbung leidet schon seit längerem an ihrem miesen Renommee. Kein Mensch will das Gefühl haben, von Werbung verfolgt zu werden. Selbst wenn sie angeblich perfekt auf das einzelne Individuum abgestimmt ist – und er dies bei der Zustimmung zu den Geschäftsbedingungen auch akzeptiert hat. 

5. Paid Content bleibt eine lahme Ente

Man muss gar nicht auf die aktuellen Diskussionen über Erfolg oder Misserfolg von Later Pay (oder Blendle) und die Demission von „Spiegel Online“-Chefredakteur Florian Harms verweisen, um konstatieren zu können: 2016 war ein schwieriges Jahr für Paid Content. Und 2017 wird es nicht bessesr. Paid Content ist vor allen Dingen für Publikumsmedien eine harte Nuss.

Wie könnte es auch anders sein?

Die Menschen sind seit 20 Jahren gewöhnt, auf die meisten Nachrichten und Medien kostenlos zugreifen zu können. Und das soll mit einem Schlag anders werden? Dazu bedarf es erst einer großen medialen Kulturrevolution – inklusive einer gehörigen Portion Experimentier- und Investitionsfreude.

Und viel, viel Geduld. So 20 bis 30 Jahre. Doch so viel Geld und Zeit haben nur die wenigsten Medienhäuser. Verlage haben nicht mehr nur ein Geschäftsmodell,  sondern gleich mehrere nebeneinander. Paid Content ist so ein neues Geschäftsmodell. Meine Prognose: Fachmedien und Special-Interest-Marken wird eine erfolgreiche Umsetzung  leichter fallen als Publikumstiteln und Tageszeitungen.

6. Das große Versprechen Content Marketing

Was wurde in den letzten zwei Jahren nicht alles der neuen medialen Wunderdroge Content Marketing zugesprochen. Sie sei die Alternative für Digitalwerbung. Sie würde für Relevanz sorgen. Sie mache aus Unternehmen Medien. Und aus den Konsumenten Menschen, die nicht (nur) Unternehmensprodukte kaufen, sondern Unternehmensinhalte lesen wollen.

Die Realität sieht ernüchternder aus. Bislang nutzen Dienstleister unterschiedlicher Provenienz das Buzzword vor allen Dingen für die neumodische verbale Neuinterpretation ihres alten Geschäftszwecks. Corporate Publisher machen weiter Corporate Publishing – nennen es aber CM. Werbeagenturen entwickelen virale Spots – und verkaufen es als CM (oder Brand Entertainment). PR-Agenturen betreiben Öffentlichkeitsarbeit – und verkaufen dies unter Content Marketing. Und die Big Player Territory und C3 wechseln sich vierteljährlich mit Nachrichten von Übernahmen und Expansionen ab, während halbjährlich ein wichtiges Mitglied aus dem Content Marketing Forum austritt. 

7. Print stirbt! Stirbt Print?

Man hört es immer wieder. Doch in Wirklichkeit schwadroniert seit dem Crash der New Economy kein Digitaler mehr über das „Sterben der Holzindustrie“. Warum glauben viele Beobachter auch im Jahr 2016 noch, dass die Digitalen nichts sehnlicher als den Tod von Print im Visier haben? Genauso wenig behauptet  übrigens jemand aus dem digitalen Lager, dass lineares Fernsehen ein Nischenprodukt für Best Ager ist, also eine  Art Mega-ZDF. Selbst Facebook schwört Werbungtreibende und Agenturen auf die Kombination von TV und sozialem Netzwerk ein.

Was ich mir wünsche für 2017: produktivere Debatten über das Verhältnis von Print und Digital. 

8. Reduce to the max

Zur DNA einer Agentur gehört, ihre Kunden über all das zu informieren, was gerade Trend oder der angesagte Hot Shit ist. Das war einfach in Zeiten, in denen Werbung und Kommunikation einfach waren. Doch die Kommunikationswelt ist bekanntlich ziemlich kompliziert geworden. Und jede Woche wird eine neue digitale Sau durchs Dorf getrieben.

Das ermöglicht Agenturen zwar – theoretisch – permanent New Business. Doch de facto stellt der Fortschrittsglaube, der der Werbeindustrie eingepflanzt ist, die gesamte Branche vor immense Aufgaben. Diese fangen bei Organisation und Struktur von Marketing-Unternehmen nicht an und hören bei Fragen zu Werbestandards und -währungen noch lange nicht auf.

Ein Alexander, der diese gordischen Knoten lösen kann, wird es nicht geben.

Was hilft? Werbungtreibende und ihre Agenturen müssen es schaffen, sich im Arbeitsalltag wie in der Unternehmensstrategie zu fokussieren.

Auch hier kann man von den Big Four Google, Amazon Facebook, und Apple viel lernen. Als Facebook 2012 an die Börse ging, gab es keinen einzigen Banner auf Facebook mobil. Ein halbes Jahr später präsentierte Mark Zuckerberg die Mobile-First-Strategie. Ende 2013 machte das soziale Netzwerk auf Smartphones und iPads so viel Werbeumsatz wie im stationären Internet. Und inzwischen werden 80 Prozent des Umsatzes mobile erwirtschaftet.

Es wäre schön, wenn man solche Erfolgsgeschichten in den kommenden Monaten öfter von Unternehmen lesen könnte, die nicht im Silicon Valley sitzen.




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