Nahezu unbemerkt von der europäischen Medienöffentlichkeit hat IBM vor kurzem angekündigt, seine gesamte programmatische Werbung künftig vom
Supercomputer Watson steuern zu lassen. Die Nachricht ist ein Fanal: Werden Mediaagenturen doch überflüssig?
Sein Vorname ist IBM, sein Nachname Watson. Und obwohl IBM Watson erst fünf Jahre jung ist und sich seit gerade 12 Monaten mit der Werbe- und Medienindustrie beschäftigt, könnte er der Prototyp einer künstlichen Spezies sein, die Mediaplaner und Kreativer zugleich ist.
Absurde Vorstellung?
In 10 Jahren wird ein AI-Experte vielleicht sagen, dass der Watson im Jahr 2016 archaisch gewesen sei wie einst T-1000, der Terminator-Prototyp aus dem Science-Fiction-Klassiker "Terminator". Doch als unbedarfter Beobachter kann man genauso sagen: Der IBM Watson des Jahres 2016 ist agil, mit scharfem künstlichen Verstand gesegnet und kann sich auf alle Eventualitäten, die bei der Gestaltung und Abwicklung von Kampagnen anfallen können, schneller einstellen als beispielsweise Jean-Remy von Matt (JvM), FM Schmidt (S&F), Manfred Klaus (Plan.Net), Jürgen Blomenkamp (Group M), Florian Schmitt (Syzygy) und Florian Heinemann (Project A) zusammen - das suggerieren zumindest die IBM-Lobpreisungen auf ihr Intelligenzmonster.
Das Eigenlob kommt nicht von ungefähr. Für IBM ist Watson die eierlegende Wollmilchsau, die dafür sorgen soll, dass der Computerriese die digitale Transformation, unter der er selbst ächzt, erfolgreich bewältigt. Für die Werbe- und Kreativszene ist Watson – nach SAP XM und, nicht ganz so radikal, Blackwood Seven – der nächste Angriff aus dem Reich der Algorithmen und der Künstlichen Intelligenz.
Minority Report
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IBM hat Watson – benannt nach einem der ersten IBM-Chefs Thomas J. Watson – als lernendes Computersystem entwickelt. Seinen ersten Auftritt hatte er 2011. Drei Tage lang konkurrierte Watson bei der Quizsendung "Jeopardy!" mit zwei Menschen – und siegte haushoch. Inzwischen ist Watson ein eigenes Ökosystem mit zahlreichen Anwendungsgebieten – von der Gesundheit bis hin zu Werbung.
Ein Jahr lang hatte IBM Watsons Brauchbarkeit für programmatische Werbung getestet.
Ende September launchte IBM auf der Plattform der Tochter Weather Company eine programmatische Sprach- und Display-Kampagne für Campbell’s Soup. Die Kampagne wird komplett von Watson gesteuert. Abhängig vom Nutzerort, dem Wetter und Kochwünschen wird unterschiedliche Werbung eingespielt. Nutzer können mit der Campbell-Werbung nicht nur per Klick interagieren, sondern per Sprache: Übers Computermikrofon können Essensvorschläge abgefragt oder eine Liste der Top-10-Rezepte, nach denen andere Nutzer gesucht haben, angefordert werden.
Das klingt crazy und befremdlich. Für die gewohnt optimistischer veranlagten US-Beobachter ist die Campbell-Kampagne ein embryonales Beispiel einer künftig durch künstliche Intelligenz bestimmten Mediastrategie.
IBM würde wahrscheinlich empathischer behaupten: Watson hat das Zeug, die Werbung - wieder einmal - zu revolutionieren. Ab Ende des Jahres soll der Supercomputer sämtliche programmatische IBM-Kampagnen steuern. Was ist das Besondere an dem neuen "Media-Experten" IBM Watson und der Campbell-Kampagne?
- Die ungeheure Rechnerkapazität und Lernfähigkeit des Systems führt zu einer deutlich besseren Werbeeffizienz. Der Tausender-Kontakt-Preis, so IBM, könne mit Watsons Hilfe deutlich gedrückt werden.
- Die oben erwähnte Campbell-Kampagne bringt das Sprechen ins Spiel. Das ist für deutsche Konsumenten (noch) Zukunftsmusik. In den USA dagegen sorgt Amazon mit seinem Smarthome-Computer Echo und dessen Sprachassistenten Alexa schon seit zwei Jahren für Furore. Die Amazon-Konkurrenten haben Sprachsteuerung lange verschlafen. Nun bohrt aber auch Apple Siri auf. Und in den USA launcht Google Ende des Jahres den Echo-Konkurrenten Google Home. In Deutschland wird Echo Ende Oktober eingeführt – dann können auch wir das möglicherweise nächste große Ding erleben: Sprechen – und nicht mehr nur Klicken und Tippen - wird zu einem weiteren Interface bei der Interaktion zwischen Mensch und Computer/Internet.
Geredet wird nicht miteinander, sondern mit dem Computer: Kampagne für Google Home
- Während hierzulande „typisch deutsch“ über den vermeintlich unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Reichweite und Kontakte/Targeting diskutiert wird, analysiert man in den USA viel pragmatischer, wie das „utopische Ziel“ (Adage), wirklich individuell gestalteter (und geschalteter) Werbung annähernd erreicht werden kann. Text- und Bild-Erkennung, linguistische Interpretationen von Meinungsäußerungen etc., sowie die ganzen „harten Daten“, die IBMs Watson sammeln, interpretieren und steuern kann, sind ein (für die Werbeindustrie) möglicherweise epolchaler Schritt.
Dank Watson bekommt Jung-von-Matt-Vorstand Thomas Strerath vielleicht doch recht. Denn Watson macht Mediaagenturen - bzw. den klassischen Media-Berater und -Planer - perspektivisch überflüssig. Da können Networks noch so viel in Kreation, Beratung oder eigene Software-Plattformen investieren: Watson hat das Zeug, Mediaplaner so antiquiert werden zu lassen wie zur ersten industriellen Revolution die Handweber. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft wird fast die gesamte Abwicklung (und teilweise auch die kreative Entwicklung) von Werbung automatisiert und in Real time erfolgen. Die "Antiquiertheit des Menschen" (Günther Anders) macht auch vor der Werbeindustrie nicht halt. Kleiner Trost: Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis sich der mechanische Webstuhl gegen die Handweber durchsetzen konnte.
Auch die „Revolution“ und „Transformation“ der Werbeindustrie ist keine eintägige Nacht- und Nebelaktion. Sie dauert schon ein paar Jahre an. Und sie wird auch noch ein paar Jahre dauern. Aber sie wird unseren Wirtschaftszweig weiterhin kolossal verändern.
Und unser Mediamastermind IBM Watson? Der plant schon die nächste Kampagne – Ende des Jahres für das GlaxoSmithKline-Erkältungsmittel Theraflu.