Es war auf der vergangenen Dmexco eines der großen Trendthemen und dürfte auch dieses Jahr wieder für Diskussionen sorgen: E-Commerce-Websites, die mit einer eigenen Werbevermarktung um die digital investierten Euros konkurrieren. Aber hatte der Hype tatsächlich das Zeug zu einem echten Trend? Kurz vor der nächsten Dmexco ist der Zeitpunkt für eine erste Bilanz perfekt.
Auf dem Papier klingt die Erfolgsformel sowohl für die Anbieter als auch für Werbekunden perfekt: Die E-Commerce-Unternehmen können die 97 Prozent Traffic, der von Nichtkäufern generiert wird, zum neuen Geschäftsfeld machen. Beim chinesischen Handelsriesen Alibaba sollen mittlerweile 50 Prozent der Umsätze aus der Online-Werbung kommen. Den Werbekunden wiederum werden so reichweitenstarke Platzierungsumfelder erschlossen mit Nutzern, denen man eine konsumfreundliche Haltung unterstellen kann. Das Sahnehäubchen dabei ist aber stets das Versprechen, durch die besondere Qualität der Nutzerdaten eine wesentlich effizientere Aussteuerung seiner Werbung zu erreichen.
Otto-Manager Thorsten Ahlers auf der Dmexco
Um das Thema "Retail Media - entsteht hier eine neue digitale Werbegattung" dreht sich kommende Woche auch der Expertentalk auf der Dmexco am HORIZONT-Stand C11 in Halle 9. Am Mittwoch, den 14. September wird Thorsten Ahlers, Geschäftsführer Otto Group Media, ab 12:30 Uhr dazu Rede und Antwort stehen.
Genau dieses Sahnehäubchen ist nun aber durch Procter & Gambles Ankündigung, weniger in Targeting bei Facebook zu investieren, nun plötzlich fraglich geworden. Denn wenn die Identifikation relevanter Konsumentengruppen nicht automatisch zu einer deutlich höheren Kampagnenwirkung führt, wackelt eine der Grundprämissen, die aus Retail Media ein Erfolgsmodell machen sollte. Zur kommenden Dmexco sollten die Vertreter dieses Werbeträgermodells also nicht nur Best Cases und erste Kunden melden, sondern auch folgende drei Fragen beantworten können.
Was kann Targeting wirklich?
Das Klischee von den Werbegeldern, die in Unkenntnis über die eigentlich entscheidenden Kunden an irrelevante Zielgruppen verschwendet wurden, ist wohl so alt wie die Werbung selbst. Die Wahrheit ist jedoch, dass die meisten Hersteller einen Teil ihrer Umsätze mit Konsumenten machen, für die das Produkt gar nicht gedacht war. So verkauft Ferrero seine Kinderschokolade längst nicht nur an unter 13-Jährige. Und viele Hersteller sind bei Kundengruppen beliebt, die sie im ersten Moment gar nicht als relevant erkannt haben. Mercedes-Benz stellte etwa bei der Premiere der A-Klasse mit Erstaunen fest, dass das für junge urbane Kunden konzipierte Auto besonders bei Senioren beliebt war.
Ein blinder Glaube an die Allmacht des Targeting ist also schlicht nicht realistisch. Die Retail-Vermarkter müssen daher alltagstaugliche Konzepte präsentieren, die die Stärken der Zielgruppenaussteuerung mit Möglichkeiten kombinieren, zusätzliche Reichweite in der breiten Bevölkerung aufzubauen.
Wie wirkt Retail Media?
Die bisherige Prämisse ist, dass die über Retail Media ermittelbaren Konsumentscheidungen die optimale Basis für ein Targeting auf künftige Produktinteressen sind. Das sieht allerdings längst nicht jeder so. So verzichtet der Frankfurter Vermarkter Kairion komplett auf diese Logik, weil sie aus Handlungen der Vergangenheit Rückschlüsse auf künftige Käufe zieht. Kairion interpretiert Retail Media stattdessen als Chance für die Platzierung von langfristig wirksamen Markenbotschaften zu einem Zeitpunkt, in dem das Interesse an Marken besonders hoch ist.
Welche Interpretation sich am Ende durchsetzen wird, muss die Zukunft zeigen. Aber klar ist, dass Retail Media nicht um eine tiefere Diskussion seines eigenen Medienmodells herumkommt. Denn reiner Kunden-Traffic allein ist noch längst kein Beweis dafür, dass an diesem Touchpoint Kommunikation möglich und erwünscht ist.
Wie frei sind die Kunden von Retail Media?
Anders als bei klassischen Medienplattformen sind die riesigen Nutzerzahlen der E-Commerce-Websites kein frei erreichbares Publikum. Denn selbst wenn die Online-Händler ihre erzielten Reichweiten kapitalisieren wollen, möchten Sie doch eines vermeiden: Potenzielle Kunden aufgrund der geschalteten Werbung an andere Händler verlieren. Aus diesem Grund wirken etwa die Schaltmöglichkeiten beim Online-Riesen Amazon eher wie eine digitale Variante der klassischen PoS-Werbung des stationären Handels als eine vollwertige Werbeplattform.
So verständlich die Sorgen der Händler sind, so sehr erhöhen sie damit aber auch die Komplexität für interessierte Werbekunden. Denn wenn man erst einmal bei jedem potenziellen Werbeumfeld die aktuell gültigen Sonderregeln in Erfahrung bringen muss, könnte schnell die Lust auf die Gattung als Ganzes verloren gehen. Auf der Dmexco wäre die ideale Gelegenheit, um zu demonstrieren, dass Retail Media auch bei der Buchungskomplexität und Gestaltungsfreiheit für Werbekunden mit anderen digitalen Medien konkurrenzfähig sein will.
cam