Frau Bieler, im Alter von 20 bis 23 Jahren flogen Sie als Flight Attendant mit der Swissair um die Welt – bis zu deren Grounding im 2001. Wie hat Sie dieses Ereignis geprägt? swissinfo.ch existiert als Online-Portal seit 1999 und ist gemäss Untertitel der „Internationale Service der SRG“. Das Online-Portal ging aus Schweizer Radio International (SRI) hervor. Als der Radiosender 2004 eingestellt wurde, übernahm swissinfo.ch dessen Funktion: Das Verbreiten von Informationen über die Schweiz. Dies geschieht heute in zehn Sprachen - auf Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Chinesisch, Japanisch, Arabisch und Russisch. Damit können über 80 Prozent der weltweiten Internetnutzer in einer ihnen verständlichen Sprache Informationen aus der Schweiz abrufen. Larissa Margot Bieler (*1978) besuchte das Gymnasium in der Klosterschule Disentis (GR). Von 1999 bis 2007 studierte sie in Zürich Germanistik, Wirtschaft und Politik und war viele Jahre als freischaffende Journalistin für lokale und regionale Medien tätig. Ab 2013 amtete sie als Chefredaktorin des „Bündner Tagblatts“ (Auflage: rund 8000 Exemplare). Seit Januar 2016 ist sie Chefredaktorin von swissinfo.ch und seit September 2018 auch dessen Direktorin.
Larissa Bieler: Das Grounding war ein riesiger Schock. Denn innerhalb der Swissair existierte eine enorme Corporate Identity: Wir alle waren überzeugt, für das beste Unternehmen der Welt zu arbeiten, die Identifikation war enorm hoch. Wir mussten erkennen, dass Politiker und Banken das offenbar anders sahen.
Anders als bei der Swissair sind Sie im Journalismus aufgestiegen wie eine Rakete: Schon mit 24 konzipierten Sie für Somedia ein Wochenblatt mit, mit 34 wurden Sie Chefredaktorin des „Bündner Tagblatts“, 2016 holte Sie die SRG als Chefredaktorin zu swissinfo.ch, und seit zwei Monaten sind Sie nun auch Direktorin dieses SRG-Unternehmens. Bestand nie die Gefahr abzuheben?Nein, weil ich sehr stark der Sache verpflichtet bin. Mich hat nie nur die Position interessiert. Natürlich ist sie wichtig, um meine Visionen umsetzen zu können. Aber ich war 14 Jahre lang in Graubünden im Lokaljournalismus tätig, das war für mich sehr prägend. Gerade beim Aufbau des Wochenzeitung „Rhiiblatt“ erlebte ich hautnah, welchen realen Effekt der Journalismus auf Dorfebene haben kann: Die Parteienvielfalt wurde grösser und der Diskurs offener. Wer das mal erlebt hat, den lässt das nicht mehr los. Mein Kern ist deshalb die journalistische Arbeit geblieben. Das ist SWI swissinfo.ch
Von 2005 bis 2010 stand swissinfo.ch im Sparfokus des Bundesrates. Dieser wollte den Dienst bis auf das englischsprachige Angebot streichen, was das Parlament verhinderte. 2012 mussten dennoch 40 von 126 Stellen abgebaut werden. Heute ist der Personalbestand bei rund 85 Vollzeitstellen. www.swissinfo.ch
Unbedingt. Bei swissinfo.ch spüren wir beispielsweise aktuell im russischen Sprachraum einen ähnlichen Effekt. Wenn wir Schweizer Analysen oder Einordnungen zu internationalen Brennpunkten wie der Skripal-Affäre publizieren, schnellen die Onlinezugriffe aus diesen Ländern nur so nach oben. Das zeigt: Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit ist aktuell im internationalen Markt das höchste Gut.
Sie sprechen Deutsch, Französisch, Englisch und etwas Rätoromanisch. Bei swissinfo.ch leiten Sie aber ein Team, das Beiträge in sieben weiteren Sprachen produziert. Wie funktioniert das im Alltag?
Bei Sitzungen muss man sich jeweils zuerst auf eine Sprache einigen. Meist ist das Englisch, aber auch die offiziellen Sprachen der Schweiz sind wichtig. Im Haus herrscht eine hohe Toleranz im Umgang mit fremden Kulturen. Man versucht, einander zu verstehen. Das beruht auf Gegenseitigkeit.
Viele sind ursprünglich Migrantinnen und Migranten. Das ist ganz entscheidend für die kulturelle Übersetzungsarbeit, die wir leisten. Wir können die Schweizer Werte ja beispielsweise nicht 1:1 auf China übersetzen, sie würden dort nicht verstanden. Deshalb ist es wichtig, dass Migrantinnen und Migranten ihre Kultur und Perspektive bei swissinfo.ch einbringen und aus dieser Warte über die Ereignisse in der Schweiz in ihre Heimatländer berichten.
swissinfo.ch hat vom Bund den Auftrag, Auslandschweizer mit Informationen aus der Schweiz zu versorgen – dazu auch Menschen, die sich über die Schweiz informieren wollen. Das ist eine Gratwanderung – einerseits müssen Sie Fakten bieten, andererseits eine „Brücke zur Schweiz“ sein.
Als Chefredaktorin erlebe ich dies innerhalb der Redaktion bisweilen schon als Widerspruch. Aber es funktioniert dennoch, weil wir sozusagen zwei verschiedene Redaktionen haben: Die deutsch-, französisch- und italienisch-sprachigen Redaktionen berichten primär für die Auslandschweizerinnen, die andern Redaktionen machen ihre Beiträge für alle anderen Weltregionen und Menschen, die an der Schweiz interessiert sind.
Wir haben im Monat etwa eine Million Unique Clients, Tendenz stark steigend. Am stärksten werden wir in den USA genutzt, dann in Russland, Japan, Frankreich und Italien. Je nach internationalem Ereignis kann sich dies ändern. Informationen haben wir auch über die User unserer Beiträge in den sozialen Medien: Wir haben rund 1.16 Millionen Follower auf Facebook. Interessant dabei: Gemäss verfügbarer Daten über unser englisch- und arabisch-sprachiges Publikum ist dieses sehr jung, nämlich zwischen 25 und 35 Jahre alt. Auch mit rund 50.000 Auslandschweizerinnen und Auslandschweizern sind wir regelmässig über die Sozialen Medien in Kontakt.
Von den gut 1 Millionen Facebook-Fans sind fast die Hälfte aus dem arabischen Raum. Wie kommt das?
Der ehemalige SRG-Generaldirektor Roger De Weck stockte seinerzeit die arabische Redaktion stärker auf als jene der anderen Sprachen – dies im Zusammenhang mit zunehmender Bedeutung der Sozialen Medien im arabischen Raum als Informationsquelle und Dialogplattform. Die Redaktion hat dann konsequent jede Frage aus dem arabischen Raum aufgenommen und beantwortet. Das hat sich ausbezahlt. Den Community-Ansatz haben wir nun auch auf andere Sprachen und Regionen übertragen, weshalb die Nutzerzahlen derzeit überall steigen. Wir investieren viele Ressourcen in diesen Dialog.
Können Sie das genauer ausführen?
Wir arbeiten mit internationalen Communities, die sich für spezifische Themen interessieren. Themen sind beispielsweise das internationale Genf als Sitz verschiedener internationaler Organisationen, ein anders wichtiges Thema ist die direkte Demokratie. Dazu führen wir auch weltweit Diskussionen über Facebook Live und vernetzten internationale Experten mit unseren Userinnen. Dadurch kann es sein, dass Personen aus Südafrika und solche aus Norwegen zugeschaltet sind. Die Leute bringen natürlich ihre Fragen und Meinungen ein, etwa zur direkten Demokratie in Taiwan oder in Argentinien. Das ergibt einen Diskurs aus multinationaler Perspektive, was sehr einzigartig ist. Community Building heisst für uns, Dialog mit dem Publikum: Wir haben die Sprachen und Themen, den Dialog aktivieren wir und warten nicht, bis die Leute zu uns kommen.
Wir sind nur scheinbar in einer Doppelrolle. Tatsächlich sind wir aber eine journalistisch unabhängige Onlineplattform und keine Kommunikationsagentur des Bundes. Natürlich müssen wir uns erklären – wie alle anderen Medien auch. Ich habe aber lange genug im privaten Bereich gearbeitet, um zu wissen, wie man sich abgrenzen kann.
Wie verhielt sich swissinfo.ch etwa bei der Selbstbestimmungs-Initiative, über die die Schweiz eben abgestimmt hat und die gegen 600 Staatsverträge infrage stellte?
Wir informieren über Abstimmungsvorlagen nach einem bestimmten Muster: Wir machen jeweils eine Übersicht zu den Positionen der Parteien und Verbände. Zudem gelten die gesetzlichen Bestimmungen: Wir berichten ausgewogen und sachgerecht und widerspiegeln die Vielfalt der Meinungen. Genau das haben wir auch zur Selbstbestimmungsinitiative gemacht. Abstimmungen haben für uns generell einen hohen Stellenwert: Sie generieren die höchste Nachfrage – notabene aus dem Ausland. Letzteres ist interessant, weil es ja immer wieder heisst, es gebe genug private Medien, dazu brauche es Swissinfo nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Die Leute im Ausland haben andere Fragen, Sorgen und Bedürfnisse als wir hier. Und dazu ist eben eine Berichterstattung aus ihrer Perspektive nötig.
Was bedeutet die No-Billag-Initiative für die tägliche Arbeit von swissinfo.ch?
Sie hatte eine grosse Auswirkung auf das Selbstverständnis der SRG, entsprechend auch auf uns. Ein Learning war, dass sich Leserinnen und Leser, Userinnen und User sehr stark mit einem Medium identifizieren möchten. Dass also Werte sehr wichtig sind. Deswegen suchen wir vermehrt den Dialog mit dem Publikum mittels journalistischer Umfragen. Ein weiterer Punkt: Wir müssen unsere Leistungen und unsere Arbeitsweise stärker erklären – und zwar sowohl innerhalb der SRG als auch gegenüber der Politik. Für uns war die Abstimmung deshalb im doppelten Sinne ein Weckruf.
Ach, wissen Sie, unsere Existenz war schon so oft tangiert, dass wir im Umgang mit solchen Situationen schon eine gewisse Übung haben. Wichtig ist, dass wir verständlich machen können, weshalb unser Auslandauftrag für die Schweiz eine grosse Bedeutung hat. swissinfo.ch ist deshalb aus internationaler Perspektive im selben Kontext zu sehen wie BBC World Services, France intern, Deutsche Welle oder Russia Today. Das zu erklären, ist nicht immer ganz einfach, aber diese Bemühungen haben wir natürlich gestärkt.
Nach der No-Billag-Abstimmung hat die SRG ein Sparprogramm von 100 Millionen Franken angekündigt. Traf dies auch swissinfo.ch?
Ja, wir tragen eine Million zu diesem Sparprogramm bei – in den Jahren 2018 und 2019. Das können wir zum Glück ohne personalrelevante Auswirkungen machen. Die Einsparungen nehmen wir bei den Fremdleistungen, bei der Administration und beim Marketing vor.
Die Doppelrolle Chefredaktorin und Direktorin ist neu: Ist das auch eine Sparmassnahme?
Nein, damit wird verankert, dass bei Swissinfo der Inhalt Priorität hat.
Sie sind seit 2017 auch Verwaltungsrätin bei der SRG-Tochter SwissTxt, inwiefern bestehen da Verbindungen?
Wie die gesamte SRG nutzen wir technische Services von SwissTxt, etwa Cloud-Lösungen, ebenso die Untertitelungsservices. Zur Person:
(lacht) Was ich damit eigentlich sagen wollte: Man muss unglaublich stark sein, um die redaktionelle Unabhängigkeit durchzuziehen. Diesbezüglich hat es die stark gebührenfinanzierte SRG einfacher, sie gerät nicht so leicht unter Druck der kommerziellen und politischen Interessen. Diesen Unterschied kann ich jetzt deutlich wahrnehmen. In Graubünden habe ich den Druck immer wieder zu spüren bekommen. Und es ist mir nicht immer gelungen, ihm ganz standzuhalten. Mein Wechsel aus Graubünden zur SRG ist deshalb kein Zufall: Es gab dort auch Entwicklungen, hinter denen ich nicht mehr stehen konnte.
Apropos Unabhängigkeit und Qualität: Seit 2017 sind Sie auch Präsidentin des Vereins Qualität im Journalismus. Warum?
Im Verein pflegen wir einen sehr bereichernden Austausch mit privaten Medien, Ausbildungsinstitutionen und der Wissenschaft. Und diese Debatte tragen wir in den JournalismusTag.ch, der jährlich stattfindet mit über 200 Medienschaffenden aus der Deutschschweiz. Zudem kann ich die handwerkliche Debatte, die dort sehr konkret stattfindet, auch in die SRG und zu swissinfo.ch tragen, was mir wichtig ist.