Wahlforschung

„Braucht man wirklich jede Woche eine neue Umfrage?“

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Den Wahlkampf und die begleitende Wahlforschung in den USA haben viele Experten beobachtet, auch Arndt Leininger. Er ist Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und plädiert im Gespräch mit planung&analyse für eine differenziertere Beurteilung zwischen Umfrageforschung und Prognosen.
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Haben die Wahlumfragen im US-Wahlkampf in diesem Jahr wieder versagt? 
Wenn man auf akademische Prognosemodelle schaut, dann waren sie, wie auch schon im Jahr 2016, recht genau. Wenn es um Meinungsumfragen geht, so heißt es oft: Die Umfragen haben uns im Stich gelassen. Das stimmt aber für die nationalen Umfragen in dieser Pauschalität nicht. Die lagen im Schnitt bei 50 bis 52 Prozent für Biden und er hat letztlich mit 51 Prozent gewonnen. Das war akkurat. Die Stimmen für Trump hat man hingegen zu schwach eingeschätzt. 

Woran hat das gelegen? Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Viele Trump-Wähler haben sich eher spät entschieden, so dass der Vorsprung auf nationaler Ebene deutlich überschätzt wurde. Entscheidend für eine Aussage zum Wahlausgang in den USA wären aber die Ergebnisse auf Ebene der Bundesstaaten, weil sich dort entscheidet, wessen Wahlmänner ins Electoral College kommen. Von daher sind die Umfragen auf Staaten-Ebene eigentlich viel aussagekräftiger. Dort fließt aber wesentlich weniger Geld rein und die Qualität ist oft niedriger mit geringeren Fallzahlen und ohne Gewichtung der Rohdaten. Es werden dort auch Robo-Calls durchgeführt.

Die Wähler werden von einem Computer angerufen? Für die Teilnahmebereitschaft ist das doch bestimmt nicht so gut? Das kann man nicht so pauschal sagen. Wer sich gegenüber einem Interviewer eventuell nicht outen will, wird einem Computer seine Wahlabsicht vielleicht ohne Scham mitteilen. 
Arndt Leininger
 Arndt Leininger
Jenny Fitz
ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin. 2017 promovierte er an der Hertie School of Governance in Berlin; zuvor in Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der London School of Economics and Political Science. Sein inhaltlicher Schwerpunkt in Forschung und Lehre bildet in vielfältiger und stets theoriegeleiteter empirisch-analytischer Form die politische Verhaltens- und Einstellungsforschung.
Nochmal zurück. Die Wahlumfragen werden vor allem auf nationaler Ebene durchgeführt, obwohl das amerikanische Wahlsystem bedingt, dass die Wahlentscheidung in den Bundesstaaten, vor allem in den sogenannten Swing States letztlich entscheidend ist? Wie kann das sein? Die Auftraggeber legen den Fokus darauf, wie die Stimmung zu den Kandidaten im Land insgesamt ist. Da fließt viel Geld rein und es werden hochwertige Umfragen durchgeführt. 

Medien finanzieren Umfragen für ihre Berichterstattung. Wie hat sich deren Verhalten zu dem Thema verändert? Medien haben derzeit eher weniger Geld zur Verfügung, die Budgets stehen unter Druck. Da ist eine Entscheidung nachvollziehbar, lieber eine nationale Umfrage zu machen als je eine in acht bis zwölf einzelnen Staaten durchzuführen. Und lokale Blätter haben zudem weniger Geld für solche Aufträge. Aber ich stelle mir schon die Frage, ob es alle paar Tage oder Wochen eine neue Umfrage braucht. Die Meinung kann sich ja noch ändern. Ich verstehe das Interesse, aber für mich als Politikwissenschaftler ist es viel interessanter im Nachhinein zu schauen, warum hat wer wie gewählt und was das für die Politik bedeutet. Und die Arbeit beginnt jetzt erst. 

Häufig zitiert wurden im Wahlkampf die Prognosen von „FiveThirtyEight“. Was haben die anders gemacht? FiveThirtyEight, also 538 heißt nach der Zahl der Wahlmänner im Electoral College. Das ist ein kommerzielles Angebot, welches die Aggregation und Gewichtung von verschiedenen Umfragen veröffentlicht. Im Detail kennt man die Methode nicht. Es wird veröffentlicht mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Kandidat gewinnen wird. 2016 wurde Trump eine geringe Wahrscheinlichkeit zugesprochen, aber eben nicht null. In diesem Jahr war das Ergebnis wieder knapper als die Prognosen von FiveThirtyEight viele erwarten ließen.

Dann sprachen Sie noch von akademischen Prognosemodellen. Wie funktionieren die? Der klassische Ansatz in der Politikwissenschaft ist, dass man die Korrelation der Präsidentschaftswahlen mit den sogenannten „Fundamentals“ in einem statistischen Modell abbildet. Das sind die Wirtschaftslage und die Beliebtheit des Amtsinhabers. Diese sind entscheidend für die Entscheidung der Wähler. Datengrundlage sind Zeitreihen dieser Variablen und vergangener Präsidentschaftswahlen bis üblicherweise 1948 auf deren Basis dann in die Zukunft extrapoliert wird. Die Beliebtheitswerte von Präsident Trump waren schlecht, wenn auch nicht so schlecht, wie man es aus einer europäischen Sicht erwarten würde. Die Wirtschaftslage war wegen Corona gerade katastrophal. Sie war aber während eines Großteils der Amtszeit Donald Trumps sehr gut. Die Kollegen Julius Lagodny und Peter Enns von der Cornell University haben dabei mit ihrem Prognosemodell in diesem Jahr sehr gut abgeschnitten. Sie haben alle Staaten bis auf Georgia korrekt vorhergesagt.

Was ist der Unterschied zwischen den Verfahren? 
Die akademischen Vorhersagen werden gemacht, um den Wahlausgang vorherzusagen. Reine Umfragen wollen die Wahlintention und die derzeitige Stimmungslage erfassen. Das ist schwierig, besonders, wenn man von einer Wahl noch mehrere Wochen entfernt ist; auch ohne Non-Response- und anderen Bias. Daher setzen auch Medien vermehrt auf Modelle, die Fundamentals und Umfragen kombinieren. 

Warum setzen sie nicht ganz auf akademische Modelle? Das ist zu langweilig. Mit jeder Umfrage verändert sich die Stimmungslage wieder ein bisschen und es gibt immer etwas zu schreiben. Die wissenschaftlichen Modelle kommen aus einer ganz anderen Denke. Der Kollege Michael Lewis-Beck von der University of Iowa hat bereits in den 80er-Jahren solche Modelle aufgestellt und sie mit der Astronomie verglichen. Dort berechnet man die Laufbahn eines Kometen einmalig und kann diese dann in den kommenden Jahren verfolgen. So könnte es auch bei Wahlen sein. Es wird ein Wahlergebnis geben, das kann man voraussagen und abwarten. Aber das passt nicht zu der Medienlogik, in der es jeden Tag eine neue Nachricht geben muss. Das bedienen die Umfragen deutlich besser. Immer wenn man eine neue Befragung hat, hat man eine neue Nachricht.

Daher werden regelmäßig die Ergebnisse der Wahlintentionsbefragungen abgedruckt und man nimmt sogar in Kauf, dass diese die Wahl beeinflussen, indem Menschen diese Ergebnisse mit in ihr Abstimmungsverhalten einbeziehen? 
Dieser Einfluss ist schwierig abzubilden. Aber vermutlich war dies ein Problem bei der vergangenen US-Wahl für Hillary Clinton. Alle Umfragen deuteten darauf hin, dass sie klar vorne liegt. Da dachten sicher einige in der Wählerschaft der Demokraten: Das ist eine sichere Sache. Auch viele Fans von Bernie Sanders konnten sich nicht motivieren, für die eher als spröde wahrgenommene Clinton zu stimmen. Auch wenn man es nicht genau beziffern kann, glaube ich, dass das einen nicht unerheblichen Einfluss gehabt hat. 

Was bedeutet die abnehmende Teilnehmerbereitschaft für die Umfrageforschung? Das ist eine große Herausforderung. Das Problem ist, dass sie nicht gleichmäßig zurückgeht, sondern in bestimmten Teilen der Bevölkerung stärker. Das war in den USA 2016 ein Problem, weil dies nicht gewichtet wurde. Bis dato waren die Menschen ohne College-Abschluss in Befragungen unterrepräsentiert, neigten jedoch genauso wie hochgebildete den Demokraten zu. Daher war ihre mangelnde Gewichtigung bisher kein großes Problem. 2016 haben sie überproportional für Donald Trump gestimmt. Das hat die Ergebnise der Umfragen verzerrt. Es wurde jetzt mit berücksichtigt, trotzdem haben wir noch eine Abweichung. Das wird ein Thema bei den Analysen in den kommenden Monaten sein. Mir scheint, es gibt in einem gewissen Segment in der Bevölkerung ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Dazu kann die Meinungsforschung auch mitgezählt werden. Da kommt jemand von einer Firma aus der Großstadt und will etwas wissen …

Wie kann man aus den Beobachtungen aus der Wahlforschung in den USA vielleicht auch auf hiesige Wahlen schließen? Wir können nicht mehr so einfach sagen: Wir haben bestimmte einfache Charakteristika, wie Bildungsgrad, Geschlecht, Einkommen oder Wohnort, die mit der Teilnahmebereitschaft und mit der Wahlabstimmung korrelieren und entsprechend vollziehen wir die Gewichtung. Wenn Befragungsbereitschaft und politische Präferenzen quer zu diesen Bevölkerungsgruppen korrelieren, wird es schwierig. Grundsätzlich kann man sagen, wenn es darum geht, herauszufinden, wie die Wahl ausgehen wird, sollte man eher auf Prognosemodelle zurückgreifen. Da gibt es auch eine wachsende Zahl in Deutschland. Die Sonntagsfrage ist gut geeignet, um die Stimmungslage zu erfassen. Als Meinungsforschungsinstitut muss man den Kunden, den Medien etwas liefern, aber man kann nochmal darüber nachdenken, ob man die klassische Wahlintentionsfrage stellt oder mit anderen Items vorgeht.

Haben Meinungsforscher für Wahlen dann überhaupt noch eine Berechtigung? 
Aber sicher. Für mich als Politikwissenschaftler steht bei Befragungen im Vordergrund, warum die Menschen sich so oder so entscheiden. Wir wollen nicht nur wissen, so und so viele Menschen denken oder handeln so, sondern wir wollen ergründen, womit hängt das zusammen. Vor dem Hintergrund hat die klassische Meinungsforschung absolut Zukunft.

Vielen Dank für das Gespräch.




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