Vor rund zehn Jahren wurde das Ende der traditionellen Marktforschung verkündet. Nicht zum ersten Mal und nicht zum letzten Mal. Vor allem Webmonitoring-Anbieter und PR-Agenturen sahen im Web 2.0 und in den Social Networks revolutionäre Analysemöglichkeiten auf Knopfdruck: schnell, schick, schön, skalierbar. Dagegen gab es natürlich Widerspruch. Entweder passiv durch Nicht-Beachtung, verächtliches Naserümpfen oder aktiv durch die üblichen Killerphrasen einiger Marktforscher: Nicht repräsentativ. Da posten nur Nörgler. Man kann keine Fragen stellen. Zugespitzt formuliert: Recht hatten weder die meist selbst ernannten Social-Media-Gurus, noch die Social-Media-Zweifler.
Der Blick zurück zeigt durchaus Parallelen zu der aktuellen Qualitäts- und Repräsentativitätsdiskussion. Es geht um viel. Es geht um die Deutungshoheit, um Einfluss, um Gütekriterien und um Geld. Meines Erachtens geht es aber auch um das Selbstbild der Marktforschung: Wer bin ich? Wer will ich in Zukunft sein? Wo will ich hin? Und es geht um Abgrenzung: Wer darf sich Marktforscher nennen und wer nicht? Oder spitzen wir es wie im Western zu: Wer sind die Guten und wer sind die Bösen (oder zumindest die Schmuddelkinder der Forschung)?
Damals, vor zehn Jahren, gab es häufig keinen differenzierten Blick auf Methoden und forscherische Ansätze. Sobald man Social Media im Marktforschungskontext erwähnte, hatten viele Institute und Kunden automatisches „Social Media Monitoring“ im Kopf. Mehr nicht. Methodenvielfalt, unterschiedliche Anwendungsfelder und differenzierte Fragestellungen? Fehlanzeige.
Vom Marktforscher zum Insight Manager
Dieses Vorgehen ist für mich symbolisch für die grundlegenden Fragen des Selbstbildes der Marktforscher. Es entstehen neue Anbieter auf dem Markt, die einerseits nicht in die etablierten Schubladen der Marktforschung (etwa Qual versus Quant) passen, sondern eine neue Kategorie erschaffen. Und andererseits kommen diese Anbieter häufig aus einer anderen Welt, das heißt, sie haben ein anderes Mindset, haben keine Mafo-Sozialisierung und halten sich deswegen auch nicht an etablierte Normen und Regeln, weil sie diese meist gar nicht kennen oder sie für Oldschool halten. Das betrifft viele Bereiche, angefangen mit Datenschutz und Anonymisierungsgebot über die Vorstellung von Repräsentativität bis hin zum Einsatz professioneller Sales-Teams, die skalierbare SaaS-Produkte verkaufen wollen und keine Insights. Die Zuständigkeit für „Digital-Themen“ liegt in Unternehmen oft in anderen Abteilungen und die Marktforschung verliert die Deutungshoheit. Diese muss sie sich wieder aneignen. Natürlich sprechen wir dann sofort von anderen Anforderungen an aktuelle und zukünftige Marktforscher.
Was beide Seiten damals (und auch heute immer wieder) vergessen: Es gab auch vor zehn Jahren bereits mehr als „nur“ Social Media Monitoring Tools. Damals wurde ein bahnbrechendes Buch veröffentlicht, das einen neuen Forschungsbegriff prägte: „Netnography: Doing Ethnographic Research Online“ von Robert V. Kozinets. Das ethnographische oder qualitativ-psychologische Verständnis in der Social Media Forschung war und ist ein echter Mehrwert für unterschiedliche Fragestellungen.
Die Abhängigkeit von Facebook & Co ist groß
Die Herausforderungen der Social-Media-Forschung sind und bleiben groß. Ein zentrales Thema ist die Abhängigkeit gegenüber den großen Netzwerken. Wann und warum ein Unternehmen wie Facebook sich entschließt, Änderungen und Einschränkungen vorzunehmen, ist absolut unkalkulierbar. Die letzten Änderungen der Instagram-Schnittstelle hat für den forscherischen Alltag eine zeitaufwendige Umstellung bedeutet. Dies macht deutlich, wie ausgeliefert die reinen Toolanbieter und deren Kunden den Social-Media-Plattformen sind. Weitere Herausforderungen liegen in der Dynamik von Social Media, neuen Anbietern und dem sich wandelnden Nutzungsverhalten von Konsumenten. Wir reden hier nur von Europa und Nord- und Südamerika. Die Herausforderungen beispielsweise in China sprengen den Umfang des Artikels.
Der Quali-Touch muss inbegriffen sein
Wie in der klassischen Marktforschung stehen Social-Media-Forscher vor einer Art Rekrutierungsproblematik. Durch ein Screening versucht man geeignete Probanden für die Stichprobe zu rekrutieren. Auf die Social-Media-Forschung übertragen, stellt sich die Frage: Wie komme ich an relevante Posts, Bilder, Videos? Relevanz muss definiert werden und hängt von Zielgruppen und Erkenntnisinteresse ab.
Für Toolanbieter stellt sich diese Frage natürlich nicht, denn die Tools suchen nach Begriffen, egal wer der Absender ist. Angenommen, ein Unternehmen möchte das Thema „Glutenunverträglichkeit“ im Social Web beleuchten. Reicht es zu erfahren, wo und wie viel über das Thema „Gluten“ gepostet wird? Oder ist es für Kunden ein Mehrwert zu wissen, welche Posts von Menschen oder Angehörigen mit einer Glutenunverträglichkeit stammen und welche Sorgen, Ängste, Hoffnungen, Fragen, Workarounds, Vermeidungsstrategien bei diesen vorherrschen? Im Endeffekt entscheidet das der Kunde, das Erkenntnisinteresse und oftmals das Budget. Denn auch bei der Social-Media-Forschung gilt: Qualität hat ihren Preis. Noch ein Ausblick: Das war vor zehn Jahren so und wird auch in zehn Jahren so sein.