planung&analyse Außergewöhnliche Partnerschaft in der Marktforschung 2019: Vocatus & Talanx! von links: Dr. Uwe Vorkötter (HORIZONT), Katharina Wüllner (Vocatus), Sabine Hedewig-Mohr (planung&analyse), Prof. Christa Wehner (HS Pforzheim) und Jan Myszkowski (Talanx)
Auch außergewöhnliche Dinge starten klein: Die Kooperation zwischen dem Versicherungskonzern Talanx und dem Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Vocatus begann mit einem Workshop beim Vorstand der Talanx International AG. Heute sitzt ein siebenköpfiges Team von Talanx, das teilweise mit Behavioural Economics arbeitet, im Büro von Vocatus in München. In diesem Jahr erhält dieses Team die Auszeichnung planung&analyse Außergewöhnliche Partnerschaft in der Marktforschung.
Welche „Berührungspunkte“ hat man eigentlich mit seiner Versicherung, die man vor Jahren abgeschlossen hat? Richtig: Mit viel Glück und ohne Unfall ist lediglich die Rechnung und das Verlängerungsschreiben ein zuverlässiger Touchpoint. Genau dieses jährliche Schreiben an seine KfZ-Versicherungskunden in Polen war nach einem Vorstandsworkshop der Pilot für die Zusammenarbeit zwischen dem Versicherer Talanx und dem Marktforscher Vocatus. Dieses Verlängerungsschreiben wurde im Sinne der Behavioural Economics Forschung völlig neu gedacht und optimiert.
Die Neugestaltung dieses Briefes lag demnach im Fokus. Dabei ging es nicht nur um Inhalt, Angebotsframing, Layout, Umschlag, sondern um den gesamten Prozess und dessen zeitlichen Ablauf. Wirklich alles wurde zur Disposition gestellt und dem Ziel untergeordnet, eine überzeugendere Entscheidungsarchitektur zu entwickeln, um mehr Kunden von einer Vertragsverlängerung zu überzeugen. Einzig das Produkt und der Preis selbst durften nicht verändert werden.
So wurden verschiedene Varianten entwickelt und im Markt getestet. Unmittelbares Ergebnis des Pilotprojektes war, dass wir mit einem optimierten Renewal Letter die Kündigungsquote um mehr als zehn Prozent senken konnten. Mittelbares Ergebnis ist, dass es in dieser Tochtergesellschaft seither ein dezidiertes Team gibt, das sich der weitergehenden Optimierung dieses Schreibens und des zugehörigen Prozesses annimmt. So wurde ein zentraler Touchpoint, der bisher weder als Marketinginstrument verstanden noch genutzt wurde, zum zentralen Erfolgsfaktor und als nachhaltige Veränderung implementiert.
Wie hat sich die Zusammenarbeit weiterentwickelt?
Dieses Pilotprojekt hatte sehr erfolgreich gezeigt, dass die Anwendung von verhaltensökonomischen Erkenntnissen (Behavioral Economics) in der Gestaltung der Entscheidungspunkte auch großes Potenzial für Versicherungen birgt. Damit kam die Zusammenarbeit zwischen dem Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Vocatus und dem Versicherungskonzern Talanx, wie sie heute existiert, eigentlich erst richtig in Schwung. Seitdem arbeiten die beiden Unternehmen im Rahmen einer langfristig ausgerichteten, strategischen Partnerschaft zunehmend enger zusammen, sei es in Form von Marktforschungsprojekten, kontinuierlicher Beratung zu aktuellen Fragestellungen, operativer Begleitung konkreter Umsetzungsprojekte oder Durchführung von Workshops.
Der zweite Schritt auf dem Weg zu dieser Partnerschaft war dann die Vorstellung der Anwendungsmöglichkeiten in allen Ländergesellschaften. Zum einen wurden in „Scoping Workshops“ ähnlich geeignete Pilotprojekte in den Ländern identifiziert, zum anderen konnten in den Gesellschaften Ansprechpartner definiert werden, die seither das Thema „Behavioral Economics“ vor Ort vorantreiben und uns als lokale Ansprechpartner dienen.
Behavioral Economics
Aus verhaltensökonomischer Perspektive, wird eine Fragestellung weniger nach innerbetrieblichen Verantwortlichkeiten, wie Kommunikation, Pricing oder Vertrieb, betrachtet, sondern in einzelne Entscheidungen, sei es von Vertriebspartnern oder Kunden, zerlegt. In solchen Entscheidungsprozessen spielen viele Maßnahmen des Unternehmens – von welcher Abteilung auch immer sie gestaltet und verantwortet werden – eine mehr oder weniger starke Rolle. All diese Einflussfaktoren müssen dabei in eine aus Sicht des Entscheiders überzeugende Entscheidungsarchitektur münden.
Will man verhaltensökonomische Erkenntnisse im Marketing anwenden, stellt sich also weniger die Frage, in welcher Verantwortung ein bestimmtes Thema liegt, sondern vielmehr, welche Entscheidung man gestalten will. Denn letztlich ist genau dies auch das Ziel jeder Marketingmaßnahme: Man will Entscheidungen der Zielgruppe besser verstehen und sie im Sinne des eigenen Unternehmens steuern.
Um gleichzeitig den Wissenstransfer zwischen Talanx und Vocatus und die operative Umsetzung der Projektergebnisse durch räumliche Nähe zu fördern, ist das Team des „Talanx Best Practice Lab“, das die bisherige Zusammenarbeit bereits koordinierte, mit inzwischen sieben Mitarbeitern direkt in die Räumlichkeiten von Vocatus in München eingezogen, obwohl das Headquarter der Talanx AG in Hannover ist (natürlich unter Wahrung aller datenschutzrechtlichen Voraussetzungen, die beide Partner zu berücksichtigen hatten).
Im Zuge des weiteren Rollouts wurden verschiedene Formate der Zusammenarbeit und des Austauschs geschaffen: Zum einen führen wir zweimal jährlich gemeinsam standort- und länderübergreifend „Behavioral Economics Labs“ mit bis zu 80 Teilnehmern aus über zehn Ländern durch. Zum anderen veranstalten wir auf Wunsch einzelner Einheiten themenspezifische „Agile Desks“, die typischerweise eine Woche dauern und in deren Rahmen konkrete Fragestellungen im Team aus Best Practice Lab, Landesgesellschaft und Vocatus verhaltensökonomisch bearbeitet werden (z.B.: Gestaltung und Vermarktung eines Telematik-Produktes in Mittelamerika). Darüber hinaus durchlaufen ausgewählte High Potentials von Talanx ein zweiwöchiges Training bei Vocatus zum Behavioral Economics Ambassador. Dieses Programm verfolgt zusammen mit den anderen Formaten das Ziel, ein Multiplikator-Team in den Ländergesellschaften zu verankern und die gewonnenen Erkenntnisse intern zu verbreiten.
Jenseits dieser Formate erstreckt sich unsere inhaltliche Zusammenarbeit zudem auf mehrere Ebenen:
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Operative Ebene: Verhaltensökonomische Optimierung von Entscheidungspunkten der Kunden. Hierbei handelt es sich eher um kleinere Projekte, die unmittelbar „Quick Wins“ nutzen und einen schnelleren „Return on Investment“ generieren
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Strategische Ebene: Entscheidungstypologische Segmentierung sowie Entwicklung von segmentspezifischen Strategien. Hierbei handelt es sich um längerfristig angelegte Projekte, in denen wir alle Ebenen im B2B2C-Geschäftsmodell betrachten (Anbieter-Agent-Kunde)
Was zeichnet die Partnerschaft aus?
Vocatus verdichtet die Erkenntnisse der verhaltensökonomischen Forschung in anwendbare Empfehlungen für Marketing, Pricing und Vertrieb. Gemeinsam mit dem „Best Practice Lab Team“ der Talanx sowie den jeweils beteiligten Tochtergesellschaften setzen wir die Konzepte und Strategien in die Praxis um. Durch die Kombination aus empirischer Forschung, Beratung und Umsetzungsorientierung erlangen wir ein tiefgreifendes Verständnis darüber, wie Menschen Entscheidungen über Versicherungen treffen – sei es beim Abschluss, der Vertragsverlängerung oder im Falle eines Schadens. Dieses Wissen gibt uns wertvolle Impulse für die Entwicklung innovativer Produkte, für ein nachhaltigeres Pricing und eine klar auf die Kundenbedürfnisse ausgerichtete Vertriebsstrategie.
Mit der Partnerschaft aus Vocatus und Talanx haben wir die Schlagkraft auch jenseits der konkreten Maßnahmen, eine neue Denk- und Herangehensweise im Unternehmen zu verankern. Vom Kunden her zu denken und die Unternehmensaktivitäten stärker auf die Kundenbedürfnisse auszurichten, erscheint einleuchtend, bedeutet aber eine enorme Veränderung in der Art und Weise, wie das Versicherungsgeschäft bisher gedacht wurde. Viel aufwendiger als die Erarbeitung von strategischen Ansätzen oder operativen Maßnahmen ist das Change Management, das zum Umdenken in den Köpfen der Organisation führt. Dies wird erst durch die Nähe und Enge der kontinuierlichen Zusammenarbeit zwischen Vocatus und Talanx möglich. Das „Sich-täglich-sehen“ und das „Sich-als-Team-verstehen“ unterscheidet die Zusammenarbeit gravierend von klassischen Auftraggeber-Auftragnehmer-Beziehungen. Beide Seiten schätzen die Offenheit, mit der das eigene Know-how geteilt und gemeinsam gewonnene Erkenntnisse in praktische Maßnahmen übersetzt werden. Es ist für beide Partner faszinierend zu beobachten, wie sich die Behavioral-Economics-Denkweise im gesamten Unternehmen weltweit verbreitet und quantifizierbare Früchte trägt. Als Ergebnis unserer Zusammenarbeit und der erzielten Erfolge wird die Umsetzung von Behavioral Economics inzwischen als einer der drei Treiber der Digitalen Transformations-Strategie von Talanx AG definiert.
Vorteile einer enge Zusammenarbeit
Neue Ansätze haben es im betrieblichen Alltag schwer, sie überzeugen nur mit konkreten Ergebnissen. Deshalb war unsere Partnerschaft von Anfang an darauf ausgelegt, quantifizierbare Ergebnisse und einen unmittelbaren „Return on Investment“ zu bringen. Die Berechnung dieser Erfolgsgröße ist nach wie vor Bestandteil eines jeden Projektes, auch wenn der Mehrwert bei weitem nicht nur darin gesehen wird, sondern vor allem im Umdenken oder Neudenken der Herangehensweise in Marketing, Pricing und Vertrieb. Aber letzteres bekommt man eben nur dadurch, dass man den monetären Mehrwert nachweist.
Mit diesem Fokus lag der Schwerpunkt in der Zusammenarbeit anfangs vor allem auf eher operativen Projekten, in denen der Mehrwert auch deutlich leichter quantifiziert werden kann – zwei Beispiele dazu:
Beispiel 1: Im telefonischen Kontakt mit potenziellen Kunden hat Vocatus die Call Center Agenten einer Ländergesellschaft darauf geschult, die zuvor empirisch analysierten Bedürfnisse der Kunden besser zu erkennen und dazu passende maßgeschneiderte Angebote zu machen. In dieser Form besser betreut, schlossen über 60 Prozent mehr Kunden eine KfZ-Versicherung ab als vorher.
Beispiel 2: Die Online-Antragsstrecke einer Ländergesellschaft hat Vocatus nicht nur unter Usability Gesichtspunkten, sondern auch unter Rückgriff auf Erkenntnisse zum Entscheidungsprozess der Kunden optimiert. Die Abschlussrate wurde um knapp 50 Prozent gesteigert.
In dem Maße, wie der grundsätzliche Ansatz durch solche Nachweise zunehmend akzeptiert wurde, stieg auch die Bereitschaft, langfristigere und eher strategisch angelegte Projekte mit dem gleichen, neuen Blickwinkel anzugehen – zwei Beispiele dazu:
Beispiel 3: Für eine andere Ländergesellschaft haben wir gemeinsam ein neues Produktportfolio auf Basis von Behavioral Economics entwickelt, das strategisch auf die Bedürfnisse verschiedener Entscheidungstypen abgestimmt ist. Hierbei ging es eben weniger um die klassischen Bedürfnissegmente, sondern ganz konkret um unterschiedliche Entscheidungsstrategien, die mit den einzelnen Produkten angesprochen wurden.
Beispiel 4: In einem weiteren Land haben wir das Management der Rabattvergabe von Maklern auf Basis einer Analyse und Segmentierung ihrer Entscheidungsprozesse sowie der Entscheidungsprozesse der Kunden überarbeitet.
Durch die enge Verzahnung von Talanx und Vocatus ist es gelungen, unsere Perspektive auf den Kunden und seinen Entscheidungsprozess grundlegend zu ändern und von der typisch „inside-out“-orientierten Denke zu einer „outside-in“-Perspektive zu wandeln. Unser gemeinsamer Erfahrungsschatz ist so inzwischen sehr umfangreich – über alle Ländergesellschaften hinweg haben wir schätzungsweise 200 Behavioral Economics-Projekte und Experimente initiiert, über deren Erfolg regelmäßig auf Ebene des Konzernvorstands berichtet wird.
Text: Katharina Wüllner, Florian Bauer von Vocatus und Anja Schmidt und Jan Myszkowski von Talanx