planung&analyse Insights 2017

Wie die Digitalisierung die Marktforschung verändert

Digitalisierung verändert die Marktforschung
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Digitalisierung verändert die Marktforschung
Die Kräfte der Digitalisierung erfassen alle Bereiche der Wirtschaft. Immer mehr Anwendungen und Prozesse erzeugen Daten, Analyse-Know-how wird zunehmend zum Mainstream. Bleibt hier noch genügend Platz für die Marktforschung? Nur wenn sie sich verändert und es versteht, die Regeln der Digitalisierung für sich nutzbar zu machen, glaubt Prof. Lutz Maicher vom Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management in seinem eitrag zur Digitalisierung.
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Was sind die Stärken der Marktforschung? Es ist die Beantwortung der großen W-Fragen für ihre Kunden. Zuallererst ist dies natürlich die Was-Frage: Was tun die Leute? Welche Handlungen haben sie realisiert? Doch mit reiner Deskription wird ein Marktforscher seine Kunden schwer zufriedenstellen. Daher ist die Frage nach dem Warum noch viel wichtiger. Warum tun die Leute es? Was ist die Motivation für ihr Handeln? Wer das Warum systematisch beantworten kann, schafft die empirische Grundlage für Vorhersagen und strategische Entscheidungen. Denn die Antwort auf das Warum ist die Grundlage für ein Vorhersagemodell, aus dem mehr oder weniger gut das zukünftige Verhalten der Leute abgeleitet werden kann.

Mit der zunehmenden Verbreitung von Smartphones kommen immer stärker auch die Wo- und Wann-Fragen in die Marktforschung. Zeitliche und örtliche Kalibrierung erlaubt zielgenaue Ansprache, erhöht Reichweite und spart Kosten. Und letztendlich rückt immer öfter auch die Wer-Frage in den Mittelpunkt. Analysen bis auf einzelne Personen herunterzubrechen ist verlockend, kollidiert jedoch häufig mit datenschutzrechtlichen Regularien.

Was? Warum? Wo? Wann? Wer? Die Beantwortung der großen W-Fragen ist das zentrale Leistungsversprechen der Marktforschung – für das drei Bereiche zusammengebracht werden müssen. Der Ausgangspunkt sind Daten zu den Aktionen und Motivationen der Menschen. Erfolgreiches Sammeln dieser Daten erfordert einen breiten Zugang zu den „Objekten der Beobachtung“. Dabei müssen die richtigen Menschen erreicht werden und sie müssen bereit sein sowie in die Lage versetzt werden, ihre relevanten Daten zur Verfügung zu stellen. Doch Daten allein reichen nicht.

Der zweite Bereich ist ein umfangreiches Analyse-Know-how. Hier hat die Marktforschung seit jeher große Kompetenz. Der dritte große Bereich ist der Zugang zu den Mafo-Kunden. Dieser ist ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg. Denn nur wer die Kunden kennt und versteht, weiß, welche Fragen sie stellen. Oder kann sie dabei unterstützen, die richtigen Fragen zu stellen. Der Zugang zu den Kunden ist essenziell, um die Beantwortung der großen W-Fragen zu monetarisieren.

Die Kraft der digitalen Veränderung

Die Marktforschung steht heute vor der Frage, wie die Digitalisierung dieses Bild verändern kann. Technologisch beginnt derzeit eine neue Stufe der Automatisierung von Produkten und Dienstleistungen. Die Prinzipien hinter Big Data sind nicht neu, einige genutzte Verfahren sind bereits Jahrzehnte alt. Neu ist, dass damit Daten in viel größeren Volumina verarbeitet werden können, dass diese Daten aus immer mehr und vollkommen unterschiedlichen Datenquellen kommen und dass die Geschwindigkeit, in der die Daten verarbeitet werden müssen und können, immer weiter zunimmt. Hier führt Quantität zu einer neuen Qualität der Datenverarbeitung.

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Prof. Lutz Maicher ist bei der planung&analyse Insights 2017 am 23. und 24. August in Frankfurt dabei. Er spricht darüber, wie Algorithmen, Plattformen und Datenmärkte die Marktforschung verändern werden. Algorithmus als Kollege oder Konkurrent?

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Gerade in den letzten Monaten wird deutlich, dass Künstliche Intelligenz immer stärker in die Anwendungen dringt. Selbstfahrende Autos, autonome Roboter in der Lagerlogistik oder Googles AlphaGo-System, das den aktuellen Go-Weltmeister schlägt. Maschinelles Lernen ist auf dem Vormarsch. Auch in vielen Bereichen, die eine Nähe zur Marktforschung haben. Die Bild- und Videoanalyse wird verbessert, was für die Verfolgung von Customer Journeys in Supermärkten oder zur Erfassung der Interaktion zwischen Kunden und Produkten genutzt werden kann. Auch die Text- und Sprachanalyse wird durch maschinelle Lernverfahren immer weiter verbessert. Sentiment-Analyse, Diskursanalyse, Topic Tracking – all dies ist heute auf großen Mengen von Texten, in vielen Sprachen und in Echtzeit möglich. Auch die Text- und Sprachgenerierung ist einen großen Schritt vorangekommen.

Nicht nur der sogenannte Roboter-Journalismus ist ein Anwendungsgebiet hierfür. Auch die Individualisierung und die Kontextualisierung des Dialogs mit den Kunden ist idealerweise direkt kalibrierbar durch das von der Marktforschung gemessene Kunden-Feedback. Automatisch kommunizierende Bots werden in den kommenden Jahren in vielen Bereichen eingesetzt werden.

Maschinelles Lernen und Marktforschung haben eine zentrale Gemeinsamkeit: beide basieren auf Modellen von der Welt. Der Marktforscher entwickelt aus seinen Daten ein statistisches Modell, maschinelle Lernverfahren benötigen ebenfalls Modelle, um ihre Vorhersagen realisieren zu können. Denn die Antwort auf die Warum-Frage ist in den Modellen kodifiziert. Könnte hier ein Wachstumsbereich für die Marktforschung in der digitalisierenden Welt liegen? Ja, wenn sich nicht in der Künstlichen Intelligenz gerade ein neuer Bereich entwickeln würde: Deep Learning. Vereinfacht gesagt sind dies neuartige Lernverfahren, in denen die Algorithmen aus riesigen Datenmengen versuchen, ihre eigenen Modelle zu finden. Vollautomatisch – und ohne Rücksicht darauf, das Warum wirklich beantworten zu können.

Prof. Lutz Maicher
Prof. Lutz Maicher
fraunhofer
ist Junior-Professor für Technologietransfer an der Universität Jena und dem Fraunhofer IMW in Leipzig. Er arbeitet an der Analyse und Integration von Daten.
Kann ein lineares Regressionsmodell mit einer überschaubaren Anzahl an unabhängigen Variablen durch einen Menschen noch interpretiert werden, so sind die neuronalen Netze der Deep-Learning-Algorithmen nicht mehr von Menschen interpretierbar. Und wenn die Prognosen, die diese Netze generieren, gut sind, werden auch viele Kunden die Warum-Frage nicht mehr stellen.

Disruptionsgefahr für die Marktforschung

Es sind die drei Bereiche, die erfolgreiche Marktforschung ausmachen: der Zugang zu den „Objekten der Beobachtung“, das Know-how zur Analyse und der Zugang zu den Kunden der Marktforschung. Wie hoch ist in diesen Bereichen die Disruptionsgefahr durch die Digitalisierung?

Die klassische Telefonbefragung ist eine Paradedisziplin der Marktforschung. Dank digitaler Technologien kann diese weiter optimiert werden und die Effizienz etwa durch intelligente Dialogsteuerung gesteigert werden. Gerade um Einstellungen von Kunden zu messen, werden bewährte und zunehmend digitale Methoden der Befragung eine hohe Bedeutung behalten. Doch das Interesse steigt, dass diese Befragungsergebnisse mit den Daten über das tatsächliche Verhalten der Menschen kombiniert werden.

Und hier wird das Internet of Things eine Vielzahl an Möglichkeiten bieten. Geräte werden immer intelligenter, mit Sensoren ausgestattet und – besonders wichtig – mit dem Internet verbunden. So kann das Nutzungsverhalten der Kunden in Echtzeit gemessen werden. Verbunden mit sozio-demografischen Daten und Einstellungen der Nutzer entsteht ein viel umfassenderes Bild, als klassische Marktforschungsmethoden liefern können.

Doch wer hat Zugang zu den Daten im Internet of Things? Wer kann diese Daten aus den vielen Datenquellen so integrieren, dass man sie für Analysen nutzen kann? Hier entscheidet sich grundlegend, an welcher Stelle in der Wertschöpfungskette die Marktforschung in Zukunft stehen wird.

Der Zugang zu den „Objekten der Beobachtung“ hat ein hohes Disruptionsrisiko. Wie sieht die Situation des Analyse-Know-hows aus? Natürlich ist auch hier eine gewisse Gefahr gegeben. Neue Technologien wie Deep Learning oder Videoanalyse sind nicht Teil des klassischen Methodenbaukastens in der Marktforschung. Dieses Know-how kann jedoch aufgebaut werden. Die Marktforschung hat zudem den Vorteil, dass sie mit ihren originären Daten zu Einstellungen und Sozio-Ökonomie Lösungen veredeln kann. Es ist daher ratsam, den Baukasten der Marktforschung so auszubauen, dass die Kombination von Nutzungsdaten mit Wissen über Nutzer eine zentrale Kompetenz darstellt. Gelingt dieser Know-how-Aufbau, dann ergeben sich Potenziale für neue Marktforschungsprodukte.

Letztendlich bleibt die Frage, inwieweit der dritte große Bereich, der Zugang zu den Marktforschungskunden, durch die Digitalisierung in Gefahr gerät. Ein zentraler Vorteil der Marktforschung ist, dass sie gemeinsam mit den Kunden die richtigen W-Fragen entwickeln und beantworten kann. Durch langfristige Erfahrungen und Netzwerke sind wertvolle Kundenbeziehungen entstanden. Aber so stabil diese Beziehungen auch sind, durch die Digitalisierung sind auch diese in Gefahr. Die Kunden sind zunehmend an hochwertige Nutzerschnittstellen gewöhnt, der Anspruch an die Flexibilität, Individualität und Aktualität von Produkten steigt.

Hier haben Newcomer eine gute Chance, Etablierten die Schnittstelle zum Kunden streitig zu machen. Verstärkt wird dieser Kampf um den Zugang zu den Kunden durch die Plattformökonomie. Unternehmensweite Plattformen, und damit deren Anbieter, monopolisieren zunehmend den Zugang zu den Nutzern. Wenn Marktforschungsergebnisse in zentrale ERP- oder Business-Intelligence-Systeme integriert werden, dann bestimmen die Hersteller dieser Systeme, unter welchen Bedingungen dies geschehen kann.

Den Wert von Daten richtig identifizieren

Auf diese Gefahren sollte reagiert werden. Dabei lohnt es sich, der Frage nach dem Wert von Daten nachzugehen. Was steckt dahinter, wenn Daten als das neue Gold bezeichnet werden? Denn aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind Daten erst einmal wertlos. Noch schlimmer, Daten sind für deren Produzenten erst einmal reine Kostenfaktoren. Es fallen Kosten für die Erhebung, die Säuberung und die Speicherung an. Der Wert von Daten kann erst durch die Identifikation und Realisierung von Wertschöpfungsoptionen geschaffen werden. Wenn mit den Daten bestehende Dienstleistungen verbessert, neue Produkte entwickelt oder die Daten an Dritte lizenziert werden können, dann wird neue Wertschöpfung im Unternehmen realisiert. Dann können mit den Daten Umsätze erwirtschaftet oder Kosten gesenkt werden. Aus ökonomischer Sicht wird der potenzielle Preis für Daten aus den maximalen Wertschöpfungsoptionen bestimmt, die ein Käufer aus diesen Daten für sich realisieren kann.

Dies führt sofort zu einer essenziellen Frage für die Marktforschung. Wer wird die besseren Wertschöpfungsoptionen entwickeln? Die bestehenden Institute, oder die neuen Anbieter von Daten und Analysen? Denn wer die besseren Optionen entwickelt, hat die Kraft, die anderen in die Rolle des Zulieferers zu drängen.

Zwischen Null und Eins
planung&analyse 6/2016
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Der Beitrag ist zuerst erschienen in planung&analyse Heft 6/2016
Dieser Effekt wird durch zwei Besonderheiten der Datenökonomie verstärkt. Netzwerkeffekte führen dazu, dass durch die Verknüpfung von Daten deren Nutzwert überproportional steigt. Es gilt das Prinzip: „Wer hat, dem wird gegeben“. Es fällt schwer, aus einem kleinen Datensatz Wertschöpfungsoptionen zu entwickeln. Wer jedoch bereits einen Datenschatz besitzt und die neuen Daten damit verbinden kann, wird viel leichter neue Wertschöpfung generieren können. Neben dem Netzwerkeffekt ist die Multioptionalität ein wichtiger Treiber der Datenökonomie. Eine leere Eigentumswohnung kann nur an eine Mietpartei gleichzeitig vermietet werden. Dann ist sie voll. Der Zahlungsstrom aus der Miete ist durch physische Grenzen beschränkt. Im Gegensatz dazu kann derselbe Datenpunkt in eine Vielzahl von Wertschöpfungsoptionen eingehen. Diese Möglichkeit der Mehrfachvermarktung von Daten kennt nur die Grenze der Kreativität ihrer Eigentümer.

Wie kann die Marktforschung das Rennen machen?

In einer sich immer stärker digitalisierenden Welt ist der Zugang zu ihren Kunden das zentrale Kapital der Marktforschung. Niemand verfügt über mehr Know-how, die W-Fragen mit den Kunden zu entwickeln und diese zu beantworten. Doch dieser Zugang ist in Gefahr durch den steigenden Anspruch der Kunden: bessere Nutzerschnittstellen, hohe Aktualität, neue Analysemethoden, viele Datenquellen. Die Kunden erleben das Technisch-Mögliche in ihrem Alltag, sodass ihre Erwartungen an die Produkte der Marktforschung zunehmen. Die Gefahr ist groß, dass Kunden zu Anbietern wechseln, die diese Anforderungen erfüllen können.

Dies ist zugleich Gefahr und Chance für die Marktforschung. Denn bisher haben andere Anbieter wenig Wissen, um marktforschungsbezogene Wertschöpfungspotenziale aus ihren Daten zu heben. Solange dieses Ungleichgewicht besteht, ist die Preismacht bei den Marktforschungsinstituten. Diesen Vorsprung gilt es zu halten und auszubauen. Dies kann geschehen, wenn die neuen Datenprovider in die Rolle der Zulieferer für die Marktforschung gebracht werden. Warum nicht mit einem aktiven Scouting nach spannenden Datenquellen beginnen? Im Idealfall gelingt es, den Zugang zu einer wertvollen Datenquelle sogar exklusiv zu sichern. Die Gesetze der Datenökonomie, also Netzwerkeffekte und Multioptionalität, bewirken, dass diese Strategie zur langfristigen Sicherung der Position beitragen kann und zugleich das Vordringen neuer Anbieter gebremst wird.
Prof. Maicher spricht eine entscheidende Herausforderung an. Die Marktforschung muss ihre traditionellen Stärken des Analysierens und Verstehens von Daten, Menschen und Märkten zu einem genuinen und nachhaltigen Wachstumsmodell für die Branche kombinieren.
Hartmut Scheffler, Geschäftsführer Kantar TNS

Letztendlich ist es natürlich auch das Analyse-Know-how, welches über die Zukunftsfähigkeit der Marktforschung bestimmt. Hier werden Deep-Learning-Verfahren, also Methoden, die ihre eigenen Modelle lernen, eine große Herausforderung für die Marktforschung sein. Grundsätzlich kann diese Methodenkompetenz jedoch in jedem Institut aufgebaut werden. Hier stehen die Institute vor einem Lernprozess, der zwar nicht überall gelingen wird, aber eine realisierbare Managementaufgabe ist. Die notwendigen Ressourcen für diese Aufgaben werden die Institute haben, die strategisch Zugang zu neuen Datenquellen aufbauen und gleichzeitig enge Kundenbeziehungen in der digitalen Welt pflegen können.
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