Personas sind derzeit beliebt im Marketing. Doch was verbirgt sich hinter dem schillernden Begriff? Eine eigene Marktforschungs-Methode, ein hilfreiches Strategie-Tool oder nur die Illustration von Vorurteilen und Wunschvorstellungen?
Kennen Sie Christoph Pragmatiker oder Tommy Technologie? Vielleicht Nerdy Nina? Oder gar Executive Ellie? Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht eines von ihren unzähligen Geschwistern. Sie alle haben eine Gemeinsamkeit: Es gibt sie nicht im wirklichen Leben. Sie wurden erfunden, damit Marketing-Verantwortliche oder Produktentwickler ihre Zielgruppen besser kennenlernen. Sie gehören zu der seltsamen Spezies der Personas, die seit einigen Jahren die Marketingwelt bevölkern. Noch nie vorher hat es so sehr gemenschelt in Vertriebspräsentationen, Marketing-Plänen oder Zielgruppen-Workshops. Personas sind beliebt und auch in der Marktforschung findet man sie überall. Und wie üblich bei Modebegriffen im Marketing ist die Vorstellung, was eine Persona ist, meist vage und mehrdeutig. Nicht jeder, der den Begriff verwendet, meint das Gleiche – auch wenn die entwickelten Personas durchaus ähnlich aussehen. Meist haben sie einen Vornamen, ein Alter, eine kurze Biografie. Manche erzählen uns ihre Hobbys und Träume, andere ihre Aufgaben im Job. Auf dem danebenstehenden Bild lächeln sie meist – es stammt aus den Datenbanken der Stock-Foto-Anbieter, weshalb sie sich bei aller Verschiedenheit irgendwie ähnlich sehen. Was steckt hinter diesen Abziehbildern von Kunden und Konsumenten?
Ein Begriff mit vager Bedeutung
Der Begriff Persona kommt aus der Antike, die alten Römer bezeichneten damit die Masken der Schauspieler. Heute versteht man darunter in der Regel eine anschauliche, verdichtete Darstellung einer Zielgruppe anhand eines typischen Vertreters. Meist sind diese Exemplare keine echten Menschen, sondern wurden zur Illustration erfunden. Trotzdem sollen sie die Merkmale der anvisierten Zielgruppe repräsentieren. Ihre Aufgabe ist es, Entwicklern, Kreativen und allen bei der Marketingplanung Beteiligten eine möglichst lebhafte Vorstellung von den Kunden und Konsumenten zu geben, die bei dem Blick auf Tabellen und Balkengrafiken meist fehlt. Sie sind ein Mittel zur Darstellung von ansonsten abstrakten Informationen. Das ist im Marketing nichts Neues: Viele Typologien verwenden bildhafte Beschreibungen, oft sogar Namen und Fotos, die das Typische herausstellen sollen. In Werbeagenturen übersetzen strategische Planer seit jeher die zahlenlastigen Zielgruppenanalysen in Figuren und Bilderwelten, um die Kollegen in der Kreation (die ungern Tabellen lesen) für ihre Arbeit zu inspirieren. Man nannte sie früher „Conceptual Target“ oder „Archetypen“. Von der Software-Entwicklung zum Online-Marketing
Der Name Personas wurde in einer ganz anderen Ecke popularisiert, nämlich in der Software-Entwicklung. Programmierer und Ingenieure laufen oft Gefahr, sich zu sehr in technischen Details zu verlieren. Damit sie bei allem, was sie tun, immer den Endnutzer vor Augen haben, kamen hier Personas zum Einsatz: Der User wurde als Person visualisiert, mit Bedürfnissen, Ansprüchen und Erwartungen. Niemand sollte vergessen, für wen das Produkt entwickelt wird. Viele solcher Personas wurden einfach durch Nachdenken erstellt, für manche wurden mehr oder minder standardisierte Interviews mit potenziellen Nutzern geführt. Marktforscher waren kaum beteiligt. Der strategische Wert der Personas lag darin, den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen. Von den Software-Leuten wanderte die Idee zunehmend in das Online-Marketing. Dort traf sie auf offene Ohren, denn sie half bei einem Problem der digitalen Geschäftswelt: Kunden werden durch Wolken von Klicks und Kennzahlen repräsentiert. Personas geben diesen ein Gesicht. Wie viele andere Begriffe des Online-Marketings diffundierten die Personas in die klassische Marketing-Welt und landeten in der Marktforschung. Heute gibt es kaum ein Institut, das nicht die Anfertigung von Personas anbietet. Manchmal werden alte Produkte einfach als Personas neu etikettiert. In dem Buch „Buyer Personas“ von Hans-Georg Häusel etwa wird auf 200 Seiten die bekannte Typologie der „Limbic Types“ gefeiert. Es gibt aber keine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Buyer Personas – obwohl hierzu sogar so etwas wie ein theoretischer Rahmen existiert. Buyer Personas für B2B-Marketing
Geprägt wurde das Konzept der „Buyer Personas“ im Business-to-Business-Marketing, hauptsächlich für die Technologie- und IT-Märkte. Die Beraterin Adele Revella hat ihn definiert, nachzulesen in ihrem 2015 erschienenen Buch mit dem offensichtlichen Titel „Buyer Personas“. Ihr Ansatz ist fokussierter. Sie geht von der Tatsache aus, dass bei Investitionsgütern meist Gremien oder Buying Centers entscheiden. Am Kaufentscheidungsprozess sind also verschiedene Funktionsträger beteiligt – Fachabteilung, zentraler Einkauf, Finanzen, Geschäftsleitung etc. Sie alle haben eigene Erwartungen und Bedürfnisse, auf die im Marketing eingegangen werden muss. Es gibt eben nicht nur „den Entscheider“, der streng rational vorgeht, sondern mehrere Entscheider, die mitunter widerstrebende Interessen haben. Die Basis von Revellas Buyer Personas ist eine sorgfältige Analyse des Entscheidungsprozesses. Die unterschiedlichen Erfolgsfaktoren, Hürden, Entscheidungseinflüsse und Kriterien werden identifiziert und verdichtet. Es geht nicht um eine „menschelnde“ Illustration, nicht um Psychografie oder Lebenswelten, sondern um knallharte Aspekte von Kaufentscheidungen in Organisationen. Ermittelt werden sie durch Forschung – Interviews mit Kunden, wobei die diversen Funktionen und Positionen im Unternehmen berücksichtigt werden. Der Grad der Systematik beim Erheben der Informationen kann allerdings variieren. Forschung oder bloße Annahmen?
Der Sozialwissenschaftler Roland Burkholz hat in einem lesenswerten Artikel drei Ansätze unterschieden: Beim Guessing-Game-Ansatz werden einfach Annahmen getroffen, mehr oder minder ohne Empirie, gerne in einem innerbetrieblichen Workshop oder einem Brainstorming. Der multimethodische Forschungsdesign-Ansatz hingegen sammelt eine Vielzahl belastbarer quantitativer und qualitativer Informationen und erfordert umfassende Forschungsaktivitäten. Er ist deshalb aufwendig und kostenintensiv. Etwas pragmatischer ist der interviewbasierte qualitative Ansatz, den auch Revella vertritt: Eine begrenzte Anzahl systematischer Kundeninterviews liefert ausreichend Erkenntnisse, um den Entscheidungsprozess zu verstehen und die kritischen Faktoren zu identifizieren. Damit lassen sich dann Marketing- und Kommunikationsmaßnahmen auf die verschiedenen Buyer Personas abstimmen und die richtigen Argumente für die relevanten Entscheider bereitstellen. Anknüpfungspunkte zu Software und Systemen der Marketing-Automation lassen sich finden – so können etwa Ansprechpartner in einer Kundendatenbank einer Buyer Persona zugeordnet werden, die man dann mit personalisierten Informationen versorgt. Leider sei aber der „Guessing-Game-Ansatz“ immer noch in der Praxis verbreitet, meint Torsten Herrmann, Geschäftsführer der auf Technologie-Kunden spezialisierten Agentur chain relations. „Es braucht manchmal viel Überzeugungsarbeit, einen Kunden von der Notwendigkeit eines interviewbasierten Persona-Projektes zu überzeugen. Aber mit kundenindividuellen Buyer Personas kann der Erfolg der Marketing- und Lead-Generierungs-Aktivitäten deutlich verbessert werden“, so Herrmann.
Für seine Projekte benötigt er im Übrigen kein Marktforschungsinstitut – das Know-how für Interviews und Auswertung ist im Haus vorhanden. Solche B2B-Persona-Interviews brauchen keine Psychologen, das Vorgehen ist vergleichbar mit dem von Unternehmensberatern oder Journalisten.
Segmente, Typen, Personas – Wo liegt der Unterschied?
Ein anderes heißes Eisen ist die Abgrenzung von Personas zu anderen Marktforschungs-Konzepten der Zielgruppenanalyse. So manches Unternehmen fragt bei Agenturen oder Instituten Personas an und meint eigentlich Kunden-Segmentation oder Typologien.
Dr. Gerhard Keim ist Geschäftsführer und Inhaber von Point Blank, ein Marktforschungsinstitut mit einem starken Schwerpunkt auf qualitativer Forschung. Er hat sich mit dem Thema Personas intensiv beschäftigt und erklärt die Unterschiede zu anderen Ansätzen, sieht sie aber auch Hand in Hand gehen. „Segmentationen definieren einen Markt anhand quantitativer Informationen, sie dienen der Marketingstrategie“, erläutert Keim und fügt hinzu: „Segmente haben keine Vornamen.“
Typologien hingegen verbänden qualitative und quantitative Erkenntnisse, insbesondere zur Wertorientierung und Produktverwendung. Sie würden die Zielgruppen lebendiger machen und liefern Ansätze für eine Kommunikationsstrategie. Personas wiederum seien zugespitzte Bilder von prototypischen Konsumenten, die helfen, die Zielgruppe konkret anzusprechen. Mit ihnen ließen sich Werbemaßnahmen kreieren, aber auch passende Produkte entwickeln. Dafür seien Daten notwendig, besonders Insights aus dem Alltag. Point Blank und andere Institute arbeiten mit ethnografischen Methoden, zum Beispiel Besuche zu Hause oder vertiefende Interviews mit Menschen in ihrem sozialen Umfeld.
Das alles kann auch via digitale Kanäle erfolgen. Eine beliebte Methode sei die mobile Ethnografie, berichtet Keim. Die Befragten werden gebeten, ihren Alltag mit Fotos, Videos oder Posts via Smartphone zu dokumentieren. Das Wichtige bei Personas sei es, die Erkenntnisse knackig auf den Punkt zu bringen und sich nicht in Details zu verlieren. Eine bildhafte Darstellung mit Filmen und Fotos helfe dabei, Kommunikationsprojekte zu befeuern – mit einer klaren Vorstellung vor Augen würden alle Beteiligten in dieselbe Richtung gehen. Als Output produziert Point Blank für seine Projekte Poster, die über jede Persona eine Geschichte erzählen. Kritisch sieht Keim Persona-Workshops ohne ausreichende Datenbasis. Hier bestehe die Gefahr, dass Zielgruppen „à la Pippi Langstrumpf“ gezimmert werden: „Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt …“
Braucht man Marktforscher für Personas?
Solche Do-it-yourself-Personas sind keine Seltenheit. Das Internet ist voll von Persona Templates, „Empathy Maps“ oder anderen Vorlagen. In vielen Blogbeiträgen von Software-Firmen werden Tipps gegeben, wie man vorgehen sollte. Interviews und Datensammeln werden zwar als wichtig bezeichnet, doch konkrete Handlungsanweisungen oder gar eine Reflexion über die Methoden fehlen.
Das ist auch die Gefahr, die viele Kritiker sehen: Ohne zuverlässige Methode sind die Ergebnisse beliebig und spiegeln eher Vorurteile oder Wunschvorstellungen über die Kunden wider. Solche Personas sind näher an Dichtung als an der Verdichtung von Daten, mehr Fiction als Fact. Trotzdem seien Workshops oft ein erster, schneller Schritt hin zu „highly informed“ – also datengesättigten – Personas. „Manchmal liegen im Unternehmen schon eine Menge Informationen vor, die später mit Hilfe von Interviews ergänzt werden können“, meint Torsten Herrmann von chain relations. Dabei ließen sich auch Wissenslücken erkennen, die dann mit weiteren Forschungsaktivitäten geschlossen werden müssen. Marktforschungsinstitute, aber auch seriös arbeitende Agenturen und Beratungsunternehmen sollten immer auf eine durch Forschung unterstützte Persona-Entwicklung bestehen – sie verursacht keine Kosten, sondern ist eine Investition. Gerhard Keim fasst die Erfahrung seines Marktforschungsinstituts in den einfachen Satz zusammen: „Daten sind die Voraussetzung für Erfolg. Es ist aber entscheidend, was man damit macht.“
Erschienen in planung&analyse 4/2020