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„Wir sitzen uns tot“

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Für Gesundheitsexperten ist die Gefahr, die mit langem Sitzen verbunden ist, keine Überraschung mehr. In den USA werden bereits Schreibtische mit Laufband eingesetzt. Hierzulande sind solche Entwicklungen noch sehr unbekannt. Das Insitut concept m research + consulting hat 1.570 Personen aus Deutschland rund um Gesundheit, Sport und Ernährung befragt und die Ergebnisse anschließend mit qualitativen Interviews vertieft. Manuela Ferdinand, Project Manager Quantitative, berichtet über die Ergebnisse. 
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 „Sitzen ist gefährlicher als Rauchen, tötet mehr Menschen als HIV und ist tückischer als Fallschirmspringen – wir sitzen uns tot“. Die Worte des amerikanischen Professors James A. Levine lösten eine internationale Hysterie rund um das Thema „Sitzen“ aus. Diverse Studien kamen allesamt zu einem Ergebnis: Wer viel und lange sitzt, erhöht automatisch sein Krankheitsrisiko und reduziert dadurch womöglich seine Lebenserwartung. Die WHO stuft „Sitzen“ sogar als viertgrößte vermeidbare Todesursache ein.

Der durchschnittliche Erwachsene verbringt 50 bis 70 Prozent seines Alltags im Sitzen. Vor allem Arbeitnehmer, die Bürotätigkeiten ausüben, haben oftmals keine Alternative als auf dem Schreibtischstuhl Platz zu nehmen. Was als üblich und normal wahrgenommen wird, widerspricht aber jeglichen Erkenntnissen der Evolutionsbiologie: Eine entscheidende Größe zur Entwicklung und Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Menschen stellt die muskuläre Beanspruchung dar – unsere Wirbelsäule ist für die sitzende Haltung nicht gemacht.

Die Folgeschäden unserer „Sitzgesellschaft“ reichen von weit verbreiteten Muskel- und Skelettschäden, über Migräne und depressive Verstimmungen bis hin zur Entwicklung von Volkskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck.

Im Rahmen einer Studie hat concept m research + consulting 1.570 Personen aus Deutschland rund um Gesundheit, Sport und Ernährung repräsentativ befragt und die Ergebnisse anschließend mit qualitativen Interviews vertieft. Dabei gab über die Hälfte der Befragten an, vor allem Arbeit im Sitzen ohne anstrengende körperliche Tätigkeiten zu verrichten.

Manuela Ferdinand
Manuela Ferdinand
concept m
ist Wirtschaftspsychologin (M.Sc.). Sie studierte Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftspsychologie mit den Schwerpunkten Organisationsentwicklung und Change Management. Mehrjährige Berufserfahrung sammelte sie im internationalen Vertrieb und Supply Chain Management sowie in der Unternehmensberatung. Seit November 2017 ist sie bei concept m als Projektmanagerin tätig. Inhaltlich verantwortet sie vor allem Studien mit dem Fokus auf die Bereiche Pharma und Gesundheit. Berufsbegleitend absolviert sie eine Weiterbildung zur Systemischen Therapeutin. 

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Betrachtet man die Gegenüberstellung von Arbeitsbelastung und selbst berichteten Gesundheitszustand, fällt auf, dass diejenigen, welche überwiegend sitzende Tätigkeiten ohne weitere körperliche Anstrengungen nachgehen, tendenziell der Meinung sind einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand zu haben. Alle weiteren Gruppen befinden sich auf untereinander ähnlichem Niveau. Vor allem Befragte, die in stark körperlich anstrengender Arbeit tätig sind, berichten im höheren Maße über beispielsweise Bluthochdruck und chronische Gelenkerkrankungen.

Diese Ergebnisse erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich zur These der „Sitzgesellschaft“. Das ist jedoch nur auf den ersten Blick der Fall. Dass körperlich stark beanspruchende Tätigkeiten eine direkte physische Belastung darstellen liegt auf der Hand. Jede Form der Überanspruchung ist schädlich und wirkt sich auf das Befinden der Betroffenen aus. Gesundheitliche Probleme treten in solchen Berufen somit direkt während oder nach der Beanspruchung auf, als medial oft dargestellte Beispiele seien hierfür der Dachdecker oder Fliesenleger genannt.

Schreibtischtätigkeiten, bei denen die Arbeit weitestgehend im Sitzen verrichtet wird, erscheinen zunächst weniger gefährdend. Hier sind es aber oftmals Langzeitfolgen und chronisch verlaufende Krankheiten, die in der Zukunft eintreffen können, dem Betroffenen heute aber noch gar nicht bewusst sind. Auch treten in diesen Berufen zusätzlich tendenziell häufiger psychische Erkrankungen auf, die von den Betroffenen aus Schamgefühl aber oftmals nicht direkt geäußert werden.

Umso wichtiger ist es, über die negativen Folgen des langen Sitzens aufzuklären und diesen präventiv, beispielsweise durch Bewegungspausen und Steharbeitsplätze, entgegenzuwirken. In den USA werden diesbezüglich sogenannte „treadmill desks“ (Schreibtische mit Laufband) immer mehr in Unternehmen eingesetzt. Jene Entwicklungen sind in Deutschland derzeit noch sehr unbekannt. Im Wettbewerb um die bestausgebildetsten und leistungsorientiertesten Mitarbeiter werden solche gesundheitsfördernden Maßnahmen an Bedeutung gewinnen.

Literatur

Hamilton, M. T., Healy, G. N., Dunstan, D. W., Zderic, T. H., & Owen, N. (2008). Too little exercise and too much sitting: Inactivity physiology and the need for new recommendations on sedentary behavior. Current Cardiovascular Risk Reports, 2(4), 292–298.

Levine, J.A. (2015), Sick of sitting. Diabetologia, pp.1-8

Raether, T. (2013), Rührt euch! in: Süddeutsche Zeitung, Heft 39.

Scholz A. (2016) Förderung der Gesundheit durch mehr Bewegung im Arbeitsalltag. In: Ghadiri A., Ternès A., Peters T. (eds) Trends im Betrieblichen Gesundheitsmanagement. Springer Gabler, Wiesbaden

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