Nach finanzieller Schieflage

Oculid kommt zu Tobii

IMAGO / Ikon Images / Josh McKiblex
Oculid wird an den schwedischen Eye-Tracking-Pionier Tobii veräußert, erfuhr planung&analyse exklusiv und vorab. Das Berliner Startup war in finanzielle Schieflage geraten. Unter etlichen Bewerbern bekam Tobii den Zuschlag. Der Konzern schließt mit dem Zukauf von Oculids Technologie eine Lücke in seinem Portfolio.
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Oculid, bekannt für Eye-Tracking, also die Erfassung und Analyse von Blickbewegungen per Smartphone-App mit einem benutzerfreundlichen Ansatz, musste im Januar Insolvenz anmelden, das Hauptinsolvenzverfahren wurde am 1. April eröffnet. Laut Antje Venjakob, eine der drei Gründerinnen, seien Finanzierungszusagen nicht so gekommen, wie geplant.


Das deutsche Startup Oculid hat seit 2018, dem Jahr seiner Gründung, eine steile Erfolgskurve absolviert. Dass die Erfassung der Blickrichtung und Aufzeichnung in einer Heatmap mit dem Smartphone und nicht mit aufwendigen Apparaturen verläuft, hat viele Institute und Kunden überzeugt. So hat beispielsweise MediaAnalyzer mit Oculid einen Digital-Add-Check entwickelt und das Verfahren in einen Fragebogen integriert. Es konnte der Blickverlauf auf Webseiten und die Aufmerksamkeit für bestimmte Anzeigenformate überprüft werden. Auch Eye Square hat mit Oculid zusammengearbeitet und UX-Research durchgeführt. Kernwert hat qualitative Studien mit dem Tool angeboten und auch Bonsai, September Research sowie dm drogerie-markt stehen auf der Referenzliste des Startups. Von planung&analyse erhielt Oculid im vergangenen Jahr die Auszeichnung „Newcomer in der Marktforschung“.

International ist die Technik von Oculid ebenfalls aufgefallen. Das amerikanische Unternehmen Affectiva – inzwischen in der Hand von Smart Eye – hat mit Oculid kooperiert.
Tobii ist hingegen ein Konkurrent gewesen, wobei das schwedische Unternehmen bereits 2001 gegründet wurde und seit über 20 Jahren Eye-Tracking anbietet. Dies für zahlreiche Anwendungsgebiete, die auch weit über die (Markt)-Forschung hinausgehen. Ein Beispiel: Das neueste VR headset PS VR2 von Sony hat die Eye-Trackig-Technik von Tobii eingebaut, damit die hochauflösenden Bilder in den Computerspielen nur an der Stelle bis zum letzten Pixel scharf dargestellt werden müssen, wo der Spielende gerade hinschaut. Das nennt sich „Foveated Rendering“ und spart viel Rechenleistung ein. Anwendungen gibt es auch in medizinischer Richtung, etwa um schwerstbehinderten Menschen die Möglichkeit zu geben, ihren Rollstuhl zu steuern. Dieser Geschäftsbereich ist allerdings inzwischen ausgegliedert in eine eigenständige Firma mit Namen Tobii Dynavoxs.

Tobii hat mehr als 600 Mitarbeitende, ein Drittel davon im Bereich Forschung und Entwicklung. Der Umsatz lag zuletzt (2021) bei 616 Millionen Schwedischen Kronen (SEK), das entspricht rund 54 Millionen Euro. Das Unternehmen ist seit 2015 an der Börse in Stockholm gelistet. Tobii ist in 13 anderen Ländern vertreten, auch in Deutschland mit einem Büro in Frankfurt. In der Marktforschung werden die Anwendungsgebiete Shopper Research, Werbeforschung, UX-Research, Verpackungsforschung sowie in der Automobilforschung angegeben.

Laut Antje Venjakob waren die Unternehmen Oculid und Tobii seit längerer Zeit in einem fachlichen und freundschaftlichen Austausch verbunden. Sie hält die jetzige Lösung für sich und ihr Team für die beste in einer misslichen Situation.

Warum hat Tobii Oculid gekauft, wenn sie bereits so gut mit der Eye-Tracking-Technik im Geschäft sind? Emma Bauer, Senior Vice President Segments & Products bei Tobii, erklärt gegenüber planung&analyse: „Oculid ist eine gute Ergänzung in unserem Angebot für User Research. Es ist leicht zu bedienen, cloud-based, mobiles Eye-Tracking, das bislang ein weißer Fleck in unserem Angebot war.“

Laut Auskunft des Büros des Insolvenzverwalters werden bei der Übernahme die Arbeitsplätze ebenfalls übernommen und die Lösung sei aus Sicht der Gläubiger die beste. Man kann also davon ausgehen, dass das höchste Angebot in diesem Fall den Zuschlag bekommen hat. Venjakob glaubt, dass die beiden Unternehmen sehr gut zusammenpassen, nicht nur das Angebot, sondern auch die Kultur. Zudem können die vorhandenen Kundenbeziehungen mit diesem Käufer fortgeführt werden. Das sei eine ideale Situation.




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