Basiswissen

Die Systematik qualitativer Marktforschung

IMAGO / Westend61
Rolf Kirchmair ist Dozent für qualitative Forschung an der Hochschule Fresenius und hat lange Jahre ein eigenes Institut geführt. Die Theorie qualitativer Methoden unterrichtet er nicht nur, er hat auch ein Buch dazu geschrieben und für uns die Grundzüge der Systematik zusammengefasst.
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Die qualitative Marktforschung hat vier historische Wurzeln: Psychologische Grundströmungen, die sich durch die Art und Weise unterscheiden, wie sie menschliches Verhalten deuten. Jede dieser psychologischen Grundströmungen hat dafür gesorgt, dass spezifische Methoden entwickelt worden sind, mithilfe derer menschliches Verhalten untersucht und erklärt werden kann.

Der Autor

Rolf Kirchmair
Rolf Kirchmair, Diplom-Psychologe, ist seit vielen Jahren in der qualitativen Marktforschung tätig. Er lehrt als Dozent an verschiedenen Hochschulen qualitative Forschungsmethoden.

Tiefenpsychologie

Die Tiefenpsychologie geht davon aus, dass menschliches Verhalten durch unbewusste Trieb- und Motivstrukturen gesteuert wird. Das heißt: Dem bewussten Verhalten und Erleben liegen unbewusste Prozesse der Triebregulation und Konfliktverarbeitung zugrunde. Innerhalb der Tiefenpsychologie gibt es verschiedene Schulen wie die Psychoanalyse, analytische Psychologie, humanistische Psychologie und Individualpsychologie, die aber alle auf dem besagten Grundprinzip beruhen.

Die Tiefenpsychologie hat zur Entwicklung vieler psychologischer Methoden der qualitativen Marktforschung geführt: Tiefeninterviews und Gruppendiskussionen gehören dazu, im Rahmen von Einzelbefragungen auch indirekte Verfahren wie projektive und nonverbale Methoden.

Kognitionswissenschaft

Die Kognitionswissenschaft betrachtet kognitive (Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungs-)Prozesse als Informationsverarbeitung. Der Behaviorismus (Verhaltensforschung) als Hauptströmung geht davon aus, dass menschliches Verhalten nicht durch innerpsychische Vorgänge, sondern nur durch das beobachtbare Verhalten mithilfe von objektiven naturwissenschaftlichen Methoden und Experimenten untersucht und erklärt werden kann.

Die Kognitionswissenschaft hat zum einen das Ziel, ein Modell der Funktionen des menschlichen Geistes durch Computersimulationen zu entwickeln (künstliche Intelligenz). Zum anderen ist sie die Grundlage dafür, dass beobachtbares Verhalten zunehmend objektiv vermessen wird: durch Reaktionszeitmessungen, psychophysiologische und neurophysiologische Messungen von Körperfunktionen sowie durch Verfahren der Emotionsanalyse.

Phänomenologie

Der phänomenologische Ansatz geht davon aus, dass der Mensch innere psychische Phänomene erleben und beschreiben kann. Diese subjektive Wirklichkeit kann dann von außen durch Rekonstruktion ihrer Entstehung in ihrer Bedeutung erkannt und verstanden werden. Das menschliche Verhalten hängt dabei nicht nur von objektiven Rahmenbedingungen ab, sondern auch von subjektiven Situationsdeutungen (symbolischer Interaktionismus).

Die Phänomenologie hat zu einer anderen Herangehensweise bei der Erforschung menschlichen Verhaltens geführt, bei der die Berücksichtigung situativer Gegebenheiten mehr in den Vordergrund gerückt ist (morphologische Psychologie).

Kontextualismus

Der kontextbezogene Ansatz betrachtet die Abhängigkeit menschlichen Verhaltens von Umfeldfaktoren. Hauptströmung ist die Ethnomethodologie, nach der der Mensch immer versucht, neue Eindrücke mit seinem bereits bekannten Bezugssystem abzugleichen, das ihm im Alltag Ordnung und Sicherheit gewährleistet. Eine Unterströmung ist die Konversationsanalyse, die sich mit der Analyse von Gesprächen und Interaktionen befasst (linguistische Gesprächsanalyse).

Der Kontextualismus ist Grundlage der ethnografischen Forschungsrichtung (Kombination von Interview und teilnehmender Beobachtung), bei der menschliches Verhalten in seiner natürlichen Umgebung (im Alltag, am Arbeitsplatz etc.) untersucht wird.

Die heutige Instituts- und Methodenlandschaft

Die qualitativen Institute in Deutschland sind sich heute ihrer methodischen Wurzeln oft gar nicht mehr bewusst. Von Ausnahmen abgesehen (wie zum Beispiel K&A Brand Research mit „ihrer“ Methode des Psychodramas) tendieren die meisten Institute dazu, sich ein breites Methodenportfolio zuzulegen und immer die Methodenkombination einzusetzen, die besonders gut zur Problemstellung passt. Die qualitative Marktforschung fokussiert sich damit immer stärker auf den unmittelbaren praktischen Nutzen. Außerdem kann man zunehmend beobachten, dass subjektive qualitative Methoden mit objektiven Messverfahren kombiniert werden. Sogar das ursprünglich rein qualitative Rheingold Institut mit seinen tiefenpsychologisch und phänomenologisch orientierten Befragungsmethoden bietet inzwischen zusätzlich Emotionsanalysen durch Mimik-Messungen an.

Weitere von qualitativen Instituten gern verwendete moderne Schlagworte wie implizite Verfahren, künstliche Intelligenz oder Onlineforschung sind keine eigenen Methoden, sondern Anwendungsmöglichkeiten. Implizite Verfahren unter Berücksichtigung des „Systems 1“ sind solche, bei denen die Befragungsmethode keine rationale Kontrolle zulässt. Das muss nicht der implizite Assoziationstest (IAT) mit seinen Reaktionszeitmessungen sein, das können auch indirekte psychologische Fragetechniken sein. Künstliche Intelligenz kann zwar zur Optimierung verschiedener Datenermittlungs- oder Auswertungstools beitragen, Haupteinsatzgebiete in der qualitativen Forschung sind aber andere. Und Onlineforschung bedient sich ja nur des Internets als Trägermedium. Meist werden hier bereits bekannte Erhebungsverfahren online durchgeführt.

Das Lehrbuch
Einen umfassenden Überblick über qualitative Forschungsmethoden von Interviews über Fokusgruppen bis zu Kreativitätstechniken sowie neuesten Ansätzen der qualitativen Onlineforschung verspricht dieses Buch. Der Hochschullehrer Rolf Kirchmair schreibt wissenschaftlich fundiert und dennoch angenehm lesbar. Durch den klaren didaktischen Aufbau mit Lernzielen, Anwendungsbeispielen, Schlüsselbegriffen und Zusammenfassungen verhilft es Lernenden und Studierenden zu nachhaltigem Lernerfolg. Zusätzlich sind Fragen und Antworten zum Selbsttest und zur Prüfungsvorbereitung über eine Lern-App verfügbar. Der Zugangscode ist im gedruckten Buch.

Rolf Kirchmair, Qualitative Forschungsmethoden. Anwendungsorientiert: vom Insider aus der Marktforschung lernen. Springer Verlag 2022, 203 Seiten, ISBN 9783662627617, 19,99 Euro



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