Selbst die schnellste Studie verdient Bedachtsamkeit beim Fragen und Analysieren.
Anstatt technisch aufzurüsten und stumpf Meinungen abzufragen, sollten Marktforscher mit Bodenhaftung und Achtsamkeit für mehr wertstiftende Erkenntnis sorgen, fordert Maik Kuhlmann.
So viel neues Geld in der Welt, aber kaum Wachstum. Viele neue Werbeformen: Die Menschen lässt es kalt. Viele neue Produkte: ein Massengrab. Wie traurig, dass nur wenige Marketingideen begeistern oder berühren. Die Frage stellt sich: Wie gut wird das Marketing durch die Marktforschung über die wahren Wünsche und Empfindungen der Menschen aufgeklärt?
Wenn die Marktforschung ihre Aufgaben vorzüglich erledigen würde, gäbe es keinen Anlass für Klagen über den begrenzten Stellenwert von Marktforschung bei vielen Auftraggebern. Auf der Münchner Marktforschungsmesse im vergangenen Jahr ging angesichts von Big Data, Social-Media-Monitoring und selbstbetriebenen Umfrage-Tools sogar die Sorge um, die klassische Marktforschung könne inmitten von neuer Konkurrenz vollständig der Ausmerzung anheimfallen. Die Rettung: Mehr Digitalisierung, Agilität und aufregende Präsentationsformen. Forschung soll auf dem Smartphone funktionieren und die Erkenntnisse sollen dem Auftraggeber in kürzester Zeit per App zugestellt werden.
Maik Kuhlmann
ist Diplom-Psychologe und nach leitender Position in einem Marktforschungsinstitut seit vier Jahren freiberuflich tätig. Seine Themen sind Marken- und Werbeforschung, Marktanalysen und Innovationsentwicklung.
Marktforscher würden sich gerne einer ähnlichen Wertschätzung wie Unternehmensberater oder Werber erfreuen. Um das zu erreichen, sollten sie vielleicht nicht so viel über fancy Methoden oder beeindruckende Reporting-Tools nachdenken, sondern schlichtweg die Menge ihrer nachweislich wertvollen Erkenntnisse erhöhen. Hierfür könnte eine kontinuierliche Verbesserung bei den alltäglichen Kernaufgaben hilfreich sein: Man könnte über die Kunst der Interpretation nachdenken, zum Beispiel über ein besseres Verständnis der Kultur, in der die Konsumenten leben. Außerdem bedenkenswert: Die Kunst des Fragenstellens.
Der Irrsinn des „Abfragens“Jahrzehntelang ist es nicht gelungen, den Irrglauben zu beseitigen, man könne Meinungen „abfragen“ wie Lateinvokabeln, man könne Empfindungen so einfach abrufen wie E-Mails. Man darf es nicht verschweigen: Beim elementaren Vorgang des Fragens kann sehr viel schiefgehen.
Drei Fehlerquellen sind immer wieder zu beobachten. Ist man für diese sensibilisiert, kann man innerhalb einer Methode die Fragestrategien und -techniken optimieren. Oder überhaupt erst die jeweils beste Forschungsmethode wählen. Neue Forschungsansätze wie Online oder Mobile bieten leider nicht unbedingt eine Lösung für diese fundamentalen Fehlerquellen. Eher scheint eine geschickt gesteuerte Offline-Begegnung der ewige Königsweg zu wertvollen Einsichten zu sein. Diesen Weg gingen schon Sokrates und Diogenes, heute gehen ihn viele Menschen in der Psychotherapie – die man besser nicht mittels Smartphone durchführt. Erkenntnisse über Empfindungen entstehen nicht auf Knopfdruck. Sie entstehen durch Staunen, gemeinsames Innehalten, zögerliche Bewusstwerdung.
Geschwindigkeit und Zeitdruck begünstigen unreflektierte Routinen, uninspiriertes Fragen, realitätsferne Reflexantworten, ein Übersehen des Neuen und selektive Blindheit bei psychischer Komplexität.
Fehlerquelle 1: Reflex-AntwortenBefragte in der Marktforschung äußern zuweilen bequeme Denk-Klischees oder versuchen, ihre Ego-Fassaden aufrechtzuerhalten. Ohne öffnende Techniken werden Peinlichkeiten, Verführbarkeiten und Träume weder erzählt noch gepostet. Eine Innenschau, welche die Auseinandersetzung mit der eigenen Komplexität erlauben würde, ist beim simplen „Abfragen“ schon zeitlich nicht möglich, kann auch emotional durch Beziehungsgestaltung nicht gebahnt werden. Beispielsweise werden englische Slogans oder gängige Schönheitsideale häufig spontan abgelehnt. Aber sollte eine Shampoo-Marke unbedingt auf das Vorzeigen einer schönen Frau verzichten, weil zehn Personen solcherlei in einer Community fordern?
Oberflächliche Antworten können in allen Methoden der Marktforschung vorkommen. Indes sind diejenigen Methoden weniger fehleranfällig, welche dem Forscher fortlaufend gestische/mimische Eindrücke über begleitende Gefühls-Tönungen liefern und letztlich eine schrittweise Ausdifferenzierung durch eine gewitzte Interaktion erlauben. Bei diesen Methoden kann eine mangelnde Authen tizität und eine Unvollständigkeit des Geäußerten diagnostiziert und eingedämmt werden, etwa durch Humor, Verlang samung, Bohren, Empathie, Provokation, Legi timationen oder bestimmte Gruppen- Übungen. All dies benötigt eine echte Begegnung – und Zeit.
Fehlerquelle 2: Geringer RealitätsbezugEine Antwort kann wahres Empfinden ausdrücken und doch die eigentliche Forschungsfrage unberührt lassen. Wenn beispielsweise ein hoher Sympathiewert für ein Produkt einer speziellen Hautpflege-Marke geäußert wird, so muss das nicht allzu viel aussagen über den Reiz des Produktes im Drogerie-Regal. Wenn ein Assoziationstest eine unterbewusst hohe Markenfaszination für eine Automarke aufdeckt, so sagt dies gar nichts über die Kaufbereitschaft.
Ein ähnliches Problem: Häufig gibt bei der Beantwortung einer Frage eigentlich das Empfinden bezüglich einer anderen Dimension den Ausschlag. Beispielsweise neigen Konsumenten in Gruppendiskussionen dazu, liebgewonnene Produkt- oder Werbeideen auch hinsichtlich der Markenpassung günstig einzuschätzen. Denn ein generelles Wohlwollen erleichtert die Vorstellung einer hohen Markenpassung. Aber ist die eigentliche Frage damit letztgültig beantwortet?
Daraus folgt: Die Forschungsmethode sollte die Realität so gut es geht simulieren, etwa durch simulierte Drogerie-Regale, oder zumindest verbal für Erdung und Realitätsbezüge sorgen. Zweitens müssen Fragende die Fragen präzise formulieren, durchgängig gut zuhören und immer das korrekte Verständnis der Fragen im Blick haben. Drittens sollten Fragende den Befragten ausreichend Zeit für eine lebensechte Antwort geben und gegebenenfalls – mittels kommunikativer Tricks – ausführlich nachfragen.
Generell gilt: Daten werden nicht unbedingt besser, wenn man viele davon hat oder wenn sie mit einer Hotshit-Methode generiert wurden, sondern wenn die Daten ökologisch valide sind, also den Alltag und die Marktrealität widerspiegeln. Diese besseren Daten zu gewinnen benötigt unter anderem: Zeit.
Fehlerquelle 3: Spekulative FragenDie Frage nach der Markenpassung ist auch ein Beispiel dafür, dass man Befragte schnell überfordern kann und damit Schein-Antworten provoziert. Was haben Mercedes-Kunden im Jahre 1995 gesagt, als man ihnen die A-Klasse vorstellte? Wie haben Konsumenten im Jahre 2000 auf die Frage reagiert, ob Apple auch Mobiltelefone herstellen dürfe? Weil Konsumenten keine Kristallkugeln haben, können sie sich die Zukunft kaum vorstellen, etwa die genaue Ausgestaltung einer Innovation, die Strahlkraft begleitender Werbemaßnahmen, zukünftige Trends oder auch den Einfluss der Innovation selbst auf eigenes Empfinden. Die Welt nach dem iPhone ist eine andere als vor dem iPhone, für uns alle.
Nicht nur die Fragen nach Markenpassung oder Innovationswünschen sind kaum zu beantworten. Beispielsweise ist auch die Frage nach Substitutionsprodukten äußerst schwierig und sehr theoretisch. Wenn man solche Fragen überhaupt sinnvoll explorieren möchte, so fordert das unter anderem: öffnende Techniken, viel Raum für Imagination und Traum, Perspektivenvielfalt – also: Zeit. Ein reines Abfragen führt hier zu Wolkenkuckucksheim-Antworten. Trotzdem werden solche Fragen in viele Leitfäden oder Fragebögen hineingeschrieben und kurz abgehandelt. Muss das so sein? Oder ist das eine schlechte Angewohnheit?
Fazit: Auskristallisieren lassen von EmpfindungsweltenDiese Überlegungen sollen auch aufzeigen, dass es nicht ausreicht, alle paar Jahre eine „tiefenpsychologische“ Grundlagenstudie zu machen. Auch bei alltäglichen Forschungsfragen ist eine ganz besondere Arbeit nötig. Denn alles explizit Geäußerte verdient zumindest eine Prüfung auf verdeckte Bedeutungsebenen, vieles prunkt mit einer Fülle an Fragezeichen (emotionale Nuancen, kulturelle Bezüge, psychologische Widersprüche). Wenn die Marktforschung in der Zukunft Daten als etwas Eindeutiges, einfach Übersetzbares auffasst, dann hat die Marktforschung keine Zukunft.
Diese besseren Daten zu gewinnen benötigt unter anderem: Zeit. p&a
Befragte dürften zu vermeintlich einfachen Themen wie der Flüchtlingsproblematik oder der Marke Axe zwar schnell eine Meinung parat haben. Tatsächlich treten Meinungen und Empfindungen aber immer mit einer gewissen Komplexität und in bestimmten Mischverhältnissen auf. Schon einer der Begründer der Gruppendiskussionen in Deutschland, Friedrich Pollock, hat in gründlicher Forschung feststellen müssen, dass Meinungen eher als wenig konkrete Dispositionen aufzufassen seien, die erst im Befragungsprozess an Kontur gewinnen und abfragbar werden. Dafür bedarf es einer behaglichen, ja besinnlichen Befragungsatmosphäre, welche die Befragten – und auch die Fragenden – für eine Weile aus dem hochgetakteten Alltag herauszuheben vermag.
Wir Marktforscher sollten nicht mit lebensfernen Itembatterien, langen Leitfäden oder textreichen Online-Plattformen sinnlose Datenberge anhäufen. Wir sollten auch nicht neue Methoden vermarkten, in denen die Fehler der alten noch nicht behoben sind. Zweckmäßiger erscheint eine Rückbesinnung auf die grundlegenden Möglichkeiten einer öffnenden Interaktion, in der das wahre Empfinden der Konsumenten allmählich herausgearbeitet werden kann. Ein Schlüssel zur Zukunft der Marktforschung liegt in ihrer Vergangenheit.