Spiegel-Chef Steffen Klusmann (r.), Zeit-Chefreporter Stefan Willeke (m.) und Andreas Wolfers / Henri-Nannen-Schule
Relotius, immer wieder Claas Relotius. Kein Name fiel bei Gruner + Jahr am Sonnabend so oft wie der des ehemaligen Spiegel-Reporters. Um das zu behaupten, braucht es nicht einmal einen, der das verifiziert – jeder Anwesende war Zeuge. Ohne diesen Fälschungsfall hätte man womöglich gar nicht gewusst, worüber man hätte reden sollen beim „Tag des Journalismus“. Abends, bei der Verleihung der Nannen-Preise, provozierte die selbstgewisse Relotius-Reflexion der Zeit sogar Protest aus dem Publikum.
Man hätte es szenisch kaum besser rekonstruieren können: Erst die Veröffentlichung der journalistischen Handwerksregeln der Zeit, drei Tage später der Abschlussbericht der Relotius-Untersuchungskommission beim Spiegel. Am Morgen danach schließlich der „Tag des Journalismus“ des Stern (Premiere war 2018), in diesem Jahr erstmals verbunden mit der frühabendlichen Verleihung der Nannen-Preise in der schick hergerichteten Verlagskantine. Doch wie offen zeigte sich der Stern selber an seinem Tag der offenen Tür?
Zur Begrüßung der im Tagesverlauf laut G+J rund 1000 Leser hatte Stern-Co-Chefin
Anna-Beeke Gretemeier noch gesagt, man wolle „Ihnen zeigen, wer und wie wir sind“. Dasselbe versprach das
breit gefächerte Programm. Wie aber zum Beispiel die ganzen Korrespondenten heißen, die da von Russland und London über Nahost bis Rio und New York für den Stern berichten und an diesem Tag über ihre Arbeit reden sollten, war darin nicht verzeichnet. So verhielt es sich bei fast allen Veranstaltungen. Der Journalist, das namenlose Wesen.
Das führte dazu, dass die Besucher des Programmpunkts „Berichtet doch mal darüber!“ davon ausgingen, hier könnten sie den Stern zu aus ihrer Sicht vernachlässigten Themen anregen. Auch Co-Chefredakteur
Florian Gless hatte schließlich morgens gesagt, „wir wollen ganz viel von Ihnen mitbekommen“, denn „wir sind neugierig auf Ihre Fragen und Zweifel“. Doch auf dem Panel saß dann doch niemand vom Stern. Stattdessen der Chefredakteur der Taz, die Chefin von Süddeutsche.de und der Chefreporter der Zeit. Ähnlich verhielt es sich bei anderen Veranstaltungen im Pressehaus.
Im Gegensatz zum Vorjahr gab es diesmal eben weder
Hitler-Tagebücher auszustellen noch ein rundes Jubiläum zu feiern. Gruner + Jahr und der Stern bedienten sich daher der Juroren und Nominierten des Nannen-Preises aus anderen Häusern, um den „Tag des Journalismus“ zu bestreiten. So macht man sich einen schlanken Fuß.
Den machte man sich auch bei der Frage, ob es tatsächlich vorkomme, dass Reportagen am Tisch entstehen und Reporter lediglich dazu da sind, die zum fertigen Plot passenden Protagonisten zu finden. So war das im Spiegel-Abschlussbericht nachzulesen. Ja, sagte Gless, er habe das selbst erlebt, diese Art, Reportagen am „Grünen Tisch“ zu planen. Für den Stern schließe er das aus. Was er nicht sagte: Dieser „Grüne Tisch“, wie er tatsächlich hieß, stand seinerzeit beim Stern,
eingerichtet von Gless‘ Vor-Vorgänger Dominik Wichmann. Dies nur als Beispiel, wie an diesem „Tag des Journalismus“ mit Selbstkritik umgegangen wurde: Das Problem mit unredlicher Arbeit schien zuvorderst eines anderer Redaktionen zu sein.
Szenenwechsel: Spiegel-Boss
Steffen Klusmann, von schmaler Gestalt und bisweilen den Blick nach unten gerichtet, spielte die Büßerrolle in einem Stück, das G+J an diesem Sonnabend gleich zweimal „vorführte“, wie es
Stefan Willeke formulierte. Der Nannen-preisgekrönte Chefreporter der Zeit saß mit Klusmann erst auf der Bühne vor dem Leserpublikum, abends ein weiteres Mal vor den knapp 400 geladenen Nannen-Gästen, darunter 50 Leser mit Losglück. Dabei ist Klusmann erst seit Januar Chef beim Spiegel, also persönlich unbelastet. Aber er kannte seine Rolle. Auf die Frage, ob bei der Zeit schon immer alles sauberer lief, antwortete der breit in seinem Stuhl sitzende Willeke: „Ich glaube ja“. Im Abend-Auditorium folgten daraufhin Proteste von Kollegen anderer Blätter.
Die Zeit habe bei Reportagen eben „nie Hyper-Perfektion angestrebt“. Und bei zu glatten Geschichten hege er „Kitschverdacht“, sagte Willeke: Bei Relotius hätte man also gewarnt sein können. Daher habe es bei der Zeit keinen großen Fälschungsskandal à la Hitler-Tagebücher, Kummer-Interviews (SZ Magazin) oder Relotius gegeben. Es war
Tanit Koch (früher Bild,
jetzt RTL/N-TV), die sich beim Tagsüber-Talk über diese „Selbstgewissheit“ mokierte und fragte, ob es nicht eher die täglichen kleineren Schludrigkeiten seien, die dem Journalismus schadeten. Und stören sich manche Leser wirklich an zu vielen szenischen Rekonstruktionen – oder vielmehr am belehrend wirkenden „links-liberalen Haltungs-Journalismus“? Die Frage stellte Moderator
Andreas Wolfers, der Leiter der
Nannen-Schule; beantwortet wurde sie nicht.
Ein weiteres Mal sorgte Willeke für
Protestrufe im Abend-Auditorium – mit seiner These, das sichere Wissen darum, dass Dokumentare alle Texte gegenchecken, verleite Redakteure zu ungenauem Arbeiten. Rechtfertigt er damit, dass die Zeit gar keine reinen Faktenchecker beschäftigt? Nein, sagt Willeke: Eine 80-köpfige
Dokumentation wie beim Spiegel verhindere ja offenbar auch nicht, auf einen Betrüger wie Relotius hereinzufallen. Dennoch: „Das ist unser wunder Punkt, wir werden das versuchen zu verstärken.“
Die sonstigen Lehren? Spiegel-Chef Klusmann wiederholte in Teilen
seine Zeilen und
Statements vom Vortag. Er ergänzte: Auch jene „nicht nur gelegentlichen
Ausreißer“ wie das dramaturgisch begründete "Verdichten“ von Abläufen und Ortsangaben und das Suggerieren, sich in die Köpfe der Protagonisten hineinzudenken, würden als „zurechtgebogene Wahrheiten“ nicht mehr toleriert. Jedoch herrschten ähnliche Sitten nicht nur beim Spiegel.
An anderer Stelle erklärte Stern-Co-Chefredakteur Gless, der Stellenwert von (reinen) Edelfedern sei beim Stern gesunken, man glaube auch guten Schreibern nicht mehr automatisch alles. Zeit-Mann Willeke allerdings ist „gegen eine Kultur des
Misstrauens, diese wäre für das Redaktionsleben verheerend“. Dabei nahm er den Spiegel in Schutz gegen den Vorwurf, frühere Spiegel-Chefs hätten durch ihre „Jagd nach Journalistenpreisen den Nährboden für den Fall Relotius bereitet“ (Sueddeutsche.de-Chefredakteurin
Julia Bönisch). Willeke: „Ich habe auch beim Spiegel nie erlebt, dass Redaktionen auf Preise angesetzt wurden, und ich kann es mir auch nicht vorstellen. Hier werden Klischees produziert.“
Apropos Preise: In der kurzweiligen und bisweilen improvisiert wirkenden Veranstaltung wurden am frühen Abend Nannen-Preise in acht Kategorien verliehen. „Früher war mehr Lametta“, sagte Moderatorin
Marietta Slomka (ZDF-„Heute Journal“) – dies galt allerdings auch
schon vor drei Jahren. Es tat der Qualität der prämierten Arbeiten einmal mehr keinen Abbruch (siehe Kasten unten). „Wir wollen gutem Journalismus weiterhin eine Bühne bieten, aber die Zeiten haben sich geändert“, sagte G+J-Chefin
Julia Jäkel. Sie verwies auf das Leserevent zuvor: „Wir müssen zeigen, mit wie viel Aufwand wir Journalismus betreiben.“ Zurück zum Kern, forderte Jäkel, „zurück zu Wort, Text, Bild – und dem Entstehen dahinter“.
rp/usi
Die Preisträger
Reportage (Egon Erwin Kisch-Preis): Bastian Berbner, „Ich und der ganz andere“, SZ Magazin
Investigation: Pascale Müller und Stefania Prandi, „Vergewaltigt auf Europas Feldern“, Buzzfeed.com in Kooperation mit Correctiv
Investigation Lokal: Oliver Schmetz und Stephan Mohne, „Teure Bande: Die dubiosen Gehälter von Personalräten“, Aachener Zeitung / Aachener Nachrichten
Dokumentation: Karsten Krogmann und Christian Ahlers, „Die Akte Högel“, NWZ Online
Web-Projekt: Katharina Brunner, Sabrina Ebitsch, Sebastian Gierke und Martina Schories, „Das gespaltene Parlament“, Sueddeutsche.de
Reportage-Fotografie: James Nachtwey, „Opioide vergiften die ganze Gesellschaft“, Stern
Inszenierte Fotografie: Stephan Vanfleteren, „Wie stellst Du Dir Deine Zukunft vor?“, Mare
Sonderpreis des Stern: Annette Ramelsberger, Rainer Stadler, Wiebke Ramm und Tanjev Schultz, Süddeutsche Zeitung, für ihre Berichterstattung und fünfjährige Begleitung des NSU-Prozesses 2013 bis 2018