+ Spektakuläre Bilanz

Warum Die Zeit "eine Art letzte Volkspartei" sein möchte – und was das fürs Geschäft heißt

Seit 17 Jahren gemeinsam an der Zeit-Spitze: Geschäftsführer Rainer Esser (l.) und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo
Vera Tammen / Die Zeit; Montage: HORIZONT
Seit 17 Jahren gemeinsam an der Zeit-Spitze: Geschäftsführer Rainer Esser (l.) und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo

Seit längerem produziert die Zeit Bestmarken – doch so frappierend wie jetzt war’s noch nie. Geschäftsführer Rainer Esser und Chefredakteur Giovanni di Lorenzo sagen: Das liegt an den Investitionen in neue Inhalte und ins Marketing. Und an Meinungsvielfalt. Ein Gespräch über den Preis von Presse, den (Werbe-)Wert von konstruktivem Journalismus, den Wahnsinn von Shitstorms, den Zoff mit der Berliner Zeitung – und über Julian Reichelt.

Werbeerlöse, Vertriebsumsätze, Auflagen – in allen Disziplinen erreicht der Zeit Verlag jetzt Rekordwerte: Für 2021 etwa einen Umsatz von 275 Millionen Euro (plus 17 Prozent). Davon im Kerngeschäft mit der Wochenzeitung und Zeit Online 189 Millionen Euro, das sind ebenfalls 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Allein die Werbeerlöse stiegen um fast 21 Prozent. Gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019 wuchsen die Kernumsätze sogar um 30 Prozent, im Vertrieb um 41 Prozent (siehe Tabelle unten).Damit schreiben die Hamburger auch (oder gerade?) in der Pandemie eine der ungewöhnlichsten Erfolgsgeschichten der Pressewelt fort: jene der Verwandlung des einst verschnarchten defizitären Traditionsblattes zum umtriebigen Vorzeigeverlag. Im Interview mit HORIZONT erklären Esser und di Lorenzo, die seit 17 Jahren miteinander arbeiten, wie das passieren konnte. Inklusive einer Spitze gegen das Privatfernsehen, gegen das jüngste Kolumnen-Canceln des Tagesspiegel (dessen Herausgeber di Lorenzo zugleich ist), einem Umdenken zu Pressesubventionen – und weiteren Plänen der Zeit schon in diesem Jahr. "Keine Umfelder, in denen persönlicher Bias und Weltuntergang dominieren"Herr di Lorenzo, wenn man Herrn Esser nach den Gründen für seine guten Umsätze fragte, würde er höflich die gute Arbeit Ihrer Redaktion priorisieren. Und wenn ich Sie frage?Giovanni di Lorenzo: Wir beiden arbeiten von Anfang an, also seit 17 Jahren, sehr vertrauensvoll miteinander, unter Wahrung der Grenzen, die es da gibt. Und wir haben einen hervorragenden Verlag und Vertrieb. Das würde ich auch in Rainers Abwesenheit sagen. Redaktionen können noch so gute Inhalte schaffen – wenn der Verlag nicht die passenden Mittel zur Verfügung stellte, haben sie es sehr schwer, zu den Menschen zu gelangen.Rainer Esser: Unsere Verleger, die Familie von Holtzbrinck, haben uns ermutigt, kräftig antizyklisch zu investieren, vor allem in die Redaktion, die in zweieinhalb Jahren um fast 100 auf jetzt 400 Köpfe wächst. Dort sind neue Ressorts, neue Inhalte, neue Themenwelten entstanden, etwa "Green", "Sinn", Gesundheit oder "Streit". Wir haben Communities für Literatur, Reisen und Schule gegründet, um diese Zielgruppen mit speziellen Newslettern anzusprechen. Nach dem ersten Jahr haben wir fast 260.000 Mitglieder, und wir werden sie weiter ausbauen. Und mit unserem Abonnentenprogramm "Freunde der Zeit" ist ein mittlerweile siebenköpfiges Team mit unseren Abonnenten jede Woche im Dialog. All dies schafft eine emotionale Nähe zur Marke Zeit. Auch unsere Diversifizierung spielt eine Rolle: Wir haben inzwischen 16 Magazinableger und über 20 Podcasts, die 5 Millionen Menschen pro Monat insgesamt 16 Millionen Mal herunterladen. Schließlich haben wir stark investiert in das Marketing und die damit verbundene Technik, Print wie Online. Zeit Verlag; HORIZONT-Berechnungen Aber kann all das erklären, dass die Zeit während der beiden Pandemiejahre 110.000 Abos dazugewonnen hat, davon sogar 10.000 bei Print?di Lorenzo: Dieses Plus hat uns selber so überrascht, dass wir mehr als 5000 Leserinnen und Leser gefragt haben, welche Haupteigenschaften sie mit der Zeit verbinden. Es zeigte sich, dass sie uns während der Pandemie als unabhängige Stimme der Vernunft wahrgenommen haben, die nichts verharmlost – aber auch nicht dramatisiert. Und im Vergleich zu anderen schreibt man uns ein hohes Maß an Meinungsvielfalt zu, außerdem tiefe Recherche und Reflexion.Esser: Darüber hinaus wird der Zeit und Zeit Online attestiert, dass sie in der Pandemie Beispiele aufzeigen, die Hoffnung und Zuversicht machen. Auch dies ist ein Faktor, der emotionale Bindung schafft und verstärkt.Noch 2015 haben Sie "kein überzeugendes Geschäftsmodell für Qualitätsjournalismus im Netz" erkannt, um große Redaktionen zu finanzieren. Spätestens jetzt aber schon, oder? #PAYWALLdi Lorenzo: Ich stehe zu meiner Aussage von damals. Sie war auch ein Hinweis an uns alle, nach Lösungen zu suchen. Ich glaube, dass unser digitales Abo Z+ eine Art Ei des Kolumbus war. Es kostet genauso viel wie die gedruckte Zeitung – denn es geht ja um die Inhalte, nicht um die Darreichungsform. Aber das war kein Selbstläufer! Rainer und ich haben lange dafür geworben. Es fehlte die Überzeugung, dass eine hohe Preispolitik für Onlinejourn

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