Michael Jürgs wurde 74 Jahre alt
"Ich starb im November", so beginne sein Buch, das sei ein guter erster Satz, da lese man doch weiter, sagte Michael Jürgs. Das war im Mai. Die ersten 180 Seiten hatte er da schon geschrieben. Er wusste: "Post mortem. Was ich nach meinem Tod erlebte und wen ich im Jenseits traf" wird sein letztes Buch sein. Anfangs haderte er mit sich, ob er es überhaupt schreiben solle. Wer wisse, ob er es zu Ende bringen könne. Als ob er das bei einem der anderen gewusst hätte, als ob so etwas je überhaupt ein Mensch wüsste. Es kann einen immer treffen. Michael Jürgs begann also zu schreiben.
Das Schreiben war sein Leben, und er hing an seinem Leben. Schreiben war auch damals seine Therapie, nachdem sie ihn rausgeworfen hatten beim Stern. Andere hätten ihre Abfindung in der Karibik verjubelt. Für die Muße war Michael Jürgs nicht geschaffen, er machte sich an die Arbeit. Seinen Job mochten sie ihm genommen haben, seinen Beruf, den Journalismus, das Schreiben konnte ihm keiner nehmen.
Sein erstes Buch, "Der Fall Romy Schneider", wurde ein Bestseller. Es folgten die Lebensbeschreibungen von Axel Springer, Richard Tauber, Günter Grass, Eva Hesse, Churchills Geheimagentin Nancy Wake ("Codename Helene"), auch Streitschriften wie der Bestseller "Seichtgebiete" und zuletzt "Gestern waren wir doch noch jung". Daneben eine Vielzahl von Essays, vor allem für den Tagesspiegel. Als im Frühjahr 2018 der Film über das von ihm zu Stern-Zeiten mit Romy Schneider geführte Interview, "Drei Tage in Quiberon", in die Kinos kam, hatte Michael Jürgs wenige Wochen zuvor von seinem Bauchspeicheldrüsenkrebs erfahren. Nach der OP kam es zu Komplikationen. Im Krankenhaus konnte er kaum sprechen. Vier Wörter aber presste er mit klarer Stimme hervor. Welche der sieben mitgebrachten Zeitungen er am Bett liegen haben wolle? "Die New York Times". Natürlich.
Es dauerte viele Wochen. Aber irgendwann setzte er sich wieder an sein Klavier, begann wieder zu schreiben, also zu leben, und er konnte wieder schimpfen wie zuvor. Der Jahrhundertsommer tat ihm gut, während Gerüchte über seinen Zustand kursierten und in nicht wenigen Redaktionen Nachrufe auf Halde gelegt wurden. Bevor es ein anderer hätte tun können, machte er seine Krebserkrankung selbst öffentlich.
Seinen Essay im Handelsblatt verstanden die, die seine Liebeserklärung an gutes Handwerk lasen, als sein Vermächtnis.
Michael Jürgs liebte seinen Beruf, er liebte den Journalismus. Er war schon lange nicht mehr im Amt, freute sich aber wie ein guter Chefredakteur über die, die ihre Arbeit gut machten: unbestechlich in der Haltung, hart in der Recherche, beim Schreiben kühl, aber zielsicher. Und er verachtete jene, die seinem Beruf Schande bereiteten.
Gegen seinen Krebs tat er, was er immer tat: Er kämpfte. Ging es ihm als Chefredakteur darum, die Verkaufszahlen der vorigen Woche zu toppen, galt es nun, die Zahl der Tumormarker zu senken. Immer mittwochs kam der neue Wert. War er gesunken, hieß das Hoffnung. Als die Werte wieder stiegen, setzte er sich neue Ziele. Es wurde Weihnachten, am 8. März jährte sich die Diagnose. Es folgte ein kleiner Urlaub, ein paar Tage mit Familie und Hund an der Nordsee, dann, im Mai, wieder ein Geburtstag, der 74. Es ging ihm nicht gut, aber besser als ein Jahr zuvor. Mit seinen alten Weggefährten vom Stern, Heiner Bremer und Klaus Liedtke, wollte er noch einmal verreisen, wie sie es immer einmal im Jahr getan hatten. Seiner Frau hatte er versprochen, die Goldene Hochzeit im November zu erleben. Und dann kam die Nachricht, dass er den Theodor-Wolff-Preis bekommen werde. Fürs Lebenswerk. Sein erster Preis überhaupt. Dafür musste er erst sterbenskrank werden. Er freute sich auf die Verleihung am 26. Juni in Berlin.
Doch dann folgte die nächste schlechte Diagnose, die nächste Behandlungsmethode, die nächste Entscheidung, wie weit er geht, was er sich zumuten will. Es war mehr als er sich selbst zugetraut hatte. Das Buch war ja noch nicht fertig. Also machte er weiter, schrieb, irgendwann begann er, gegen die Resignation anzuschreiben. Am 18. Juni war Abgabe. Natürlich hielt er die Deadline ein.
Die Reise mit seinen beiden Freunden hatte er schon nicht antreten können. Wenige Tage, bevor er in Berlin den Theodor-Wolff-Preis für sein Lebenswerk entgegennehmen sollte, musste er auch einsehen, dass er es nicht nach Berlin schaffen würde. Nach der Verleihung schrieben wir uns weiter Mails und SMS-Nachrichten. Am Mittwoch passierte dann das Ungewöhnliche: Zum ersten Mal antwortete er nicht binnen Minuten auf meine Mail. Auch auf meinen Anruf einige Stunden später reagierte er nicht, und auch nicht auf die SMS am Abend.
Vergangene Nacht starb er. Vier Monate vor seiner persönlich gesetzten Deadline.
Er werde seinen Nachruf selbst schreiben, hat er immer gesagt. Er hatte zu viele schlechte gelesen. Sein Urteil über diesen Nachruf werde ich nicht mehr erfahren. Nie wieder wird er der Erste sein, der meine Texte kommentiert.
Du fehlst, Michael. Deiner Frau, Deinem Sohn, Deinen Schwestern, den vielen Freunden und Weggefährten, Hamburg, dem Journalismus. Und Du fehlst mir. Ganz sicher wirst Du weitermachen, weiter schreiben. Hinterm Horizont hat noch keiner recherchiert.
Ulrike Simon