Table.Media-Gründer Sebastian Turner: "Wir sind ein neuer interessanter Geschmack im Eissalon des Journalismus – und vielleicht schmeckt diese Sorte besonders gut und verkauft sich besser."
Wie stellen sich Medien auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ein? Darüber spricht beim HORIZONT Kongress ein besonders profilierter Innovator: Sebastian Turner, Gründer und Herausgeber von Table.Media. Sein Geschäftsmodell: kostenpflichtige Briefings für Entscheiderinnen und Entscheider. Wie das geht und warum er es für zeitgemäß hält, erklärt Turner im HORIZONT-Interview.
Herr Turner, wie groß ist Ihr Anspruch? Wollen Sie mit Table.Media eine neue Form von Journalismus etablieren?
Das wäre etwas zu breitbeinig, wir sind keine Feuerwalze und kein Sturmgeschütz. Ich kann mir aber vorstellen, dass unser Modell eine zusätzliche relevante Gattung im Journalismus wird. Vielleicht kann man sagen: Wir sind ein neuer interessanter Geschmack im Eissalon des Journalismus – und vielleicht schmeckt diese Sorte besonders gut und verkauft sich besser.
Sie bieten mit Table.Media tägliche Briefings für die Themen Europapolitik, China und Bildung an. Warum sind Sie ausgerechnet mit diesen Bereichen gestartet?
Wir suchen gezielt Felder mit großer Informations-Asymmetrie. Wo gibt es eine große Nachfrage, aber ein geringes Angebot? Nehmen Sie China: Was dort passiert, spielt im Alltag der allermeisten Deutschen keine große Rolle. Für die Entscheider in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist es aber von allergrößter Bedeutung. Sie haben dringenden Informationsbedarf. Der wird aber nur lückenhaft bedient, weil selbst die besten deutschen Publikumsmedien höchstens zwei China-Korrespondenten haben, die gerade mal die wichtigsten Ereignisse covern können. Unser Team dagegen besteht aus zwölf China-Experten, die zusammengenommen über 100 Jahre China-Erfahrung haben. Alle sprechen Mandarin, zwei sogar muttersprachlich. Was dieses Team produziert, ist für viele Topleute beruflich so entscheidungsrelevant, dass sie bereit sind, dafür zu zahlen.
Erwarten Sie, dass die besagten Informations-Asymmetrien noch zunehmen?
Wenn sich zwei Trends fortsetzen: ja. Wenn sich einerseits die Redaktionen weiter ausdünnen und sich andererseits die Welt weiterdreht. Dann öffnen sich immer mehr Fenster für ein Angebot wie Table.Media.
Sebastian Turner
Sebastian Turner startete seine berufliche Laufbahn als Gründer: 1985 gründete er
Medium, das Magazin für Journalisten, das er bis 1995 herausgab. Von 2001 bis 2008 war er Vorstandsvorsitzender der Werbeagentur
Scholz & Friends. Als Herausgeber und Gesellschafter der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel (2014 bis 2020) machte er den Titel zur Nummer 1 in der Hauptstadt. 2017 gründete er mit Trafo Media eine Beteiligungsgesellschaft, die in diversen Mediatech-Firmen investiert ist. Zu Trafo Media gehört auch der 2021 gestartete Digitalpublisher Table.Media, den Turner als Herausgeber leitet.
Wie schaffen Sie es, kompetente Journalistinnen und Journalisten an Bord zu holen? Noch ist Table.Media weder eine prestigeträchtige Marke noch ein sicherer Hafen.
Fast jeder im Markt kennt den Tagesspiegel-Turnaround: Der Tagesspiegel war die viertgrößte Zeitung in Berlin und wirtschaftlich massiv unter Druck wie alle anderen. Er ist jetzt die Nummer 1 und doppelt so groß wie die Nummer 2. Die geschäftsführende Redakteurin Antje Sirleschtov und ich haben beim Tagesspiegel Jahre gebraucht, um die Formel zu entwickeln, wie Verticals – also besonders in die Tiefe gehende Fachinformationen – redaktionell und verlagsseitig so aufgesetzt werden, dass mehr redaktionelle Qualität zu mehr wirtschaftlichem Erfolg führt. Nach dieser Formel bauen wir jetzt Table.Media auf, und nach einem Jahr sind unsere vergleichbaren Kennziffern bereits besser als die des Tagesspiegels.
Schön und gut. Aber warum sollte man deshalb zu Table.Media wechseln?
Versetzen Sie sich in einen Journalisten mit hoher Kompetenz – das heißt mit der ausgeprägten Gabe, Zusammenhänge und Entwicklungen zu analysieren. Dem müssen wir gar nicht viel erklären. Er erlebt seit Jahren einen Abbau von Stellen in seiner Umgebung und seine eigene Arbeit ändert sich auch. Er hat immer weniger Zeit zu recherchieren und verbringt mehr Zeit damit, im Schichtdienst digitale Kanäle zu bestücken. Je mehr sie ihr Fachgebiet lieben, desto attraktiver ist die Arbeit bei Table. Und wir suchen. Wer uns ein interessantes Thema vorschlägt, kann nach wenigen Wochen mit einem neuen Format loslegen – so ist es bei Bildung.Table gelaufen. Oberstes Gebot ist dabei immer Kompetenz, das Herzstück für Leitmedien-Journalismus. Unser Anspruch ist, in unseren Themenfeldern die beste Qualität zu liefern. Wenn irgendwo die Leute nicht reichen, dann holen wir eben noch jemand dazu.
Die journalistische Arbeit ist allerdings leichter, wenn man für einen allseits bekannten Titel arbeitet. Exklusive Interviews oder auch Insider-Informationen sind bei großer Reichweite einfacher zu bekommen. Ist es für Table.Media daher schwieriger, Scoops zu landen?
Nein. Viele basieren ja auf journalistischer Tiefenbohrung, was Verticals besonders gut können. Nehmen Sie einen unserer Scoops: Als Alibaba-Gründer Jack Ma verschwunden war, konnten wir herausfinden, wo er sich befand. Die Information war in einer chinesischen Zeitung aufgetaucht, für die man aber die notwendigen Sprachkenntnisse und die Zeit, sie zu lesen, haben muss. Wenn man sich viele Enthüllungen ansieht, stellt man fest, dass die Berichterstattung sehr häufig von Expertenjournalisten angestoßen wurde – ob im Lokalen oder in Fachmedien, immer von Leuten, die ganz nah dran sind. Erst danach steigen die großen Publikumsmedien ein.
Viele Scoops basieren auf journalistischer Tiefenbohrung, was Verticals besonders gut können.
Sebastian Turner, Table.Media
Dennoch: Informanten wollen ja eine breite Wirkung, sie wenden sich also lieber an die großen Publikumsmedien.
Das stimmt. Wer weiß, dass Helene Fischer schwanger ist und das nicht für sich behalten kann, kommt damit nicht zu uns. Aber bei den Fachzusammenhängen sind wir sehr gefragt. Denn viele interessante Informationen werden von Publikumsmedien nicht wahrgenommen, weil sie zu speziell sind. Im Landwirtschaftsausschuss wird etwas diskutiert, das die Mais-Leute sehr freut und den Fleisch-Leuten unglaublich wehtut. Das interessiert die Publikumsmedien nicht, selbst wenn sie die Milliarden-Dimension erkennen würden. Dabei ergeben sich aus sehr spezifischen Informationen oft größere Zusammenhänge, die auch von allgemeinem Interesse sind – wenn sie nur jemand erkennt und erklärt. Es liegen viele relevante Geschichten da draußen herum, die nicht beachtet werden.
Reden wir übers Geld. Die Idee, mit speziellen Newslettern spitze Zielgruppen zu bedienen, ist nicht neu. Der Knackpunkt war immer die Refinanzierung der aufwendigen Produktion. Wie gut rechnet sich Table.Media bislang?
Es rechnet sich mit großer Freude. Wir ermitteln eine Reihe von Metriken: Was kostet ein neuer Leser, was kostet ein Abschluss? War der zwölfte Monat besser als der elfte? Welche Gruppe öffnet was wann wie oft? Wir haben dabei als Referenz den Erfolgsfall Tagesspiegel. Vergleicht man die Leistungsziffern, sieht Table bei allen Indikatoren heute schon besser aus. Das wird auch von aufgeweckten Insidern beobachtet. Wir werden deswegen von erstaunlichen Seiten angesprochen, ob man bei uns investieren kann. Das ist sehr viel angenehmer, als anders herum.
Warum findet das Vertical-Konzept nicht mehr Nachahmer?
Wenn man wirtschaftlich unter Druck ist – und das sind fast alle Medien – dann ist es gegen die Intuition, auszubauen, erst recht doppelt: in der Redaktion und im Verlag. Man muss ja sparen. In diesem Zusammenhang erkennt man, welches Glück der Tagesspiegel mit Dieter von Holtzbrinck hat. Er will Qualität und weiß klug zu investieren. Anderswo werden erstmal die Randthemen reduziert. In Berlin haben Redaktionen beispielsweise ihre Hochschulspezialisten aufgegeben – dabei gibt es in Berlin mehr Hochschulangehörige, als andere Großstädte Einwohner haben. Auf einmal hat der Tagesspiegel da ein Monopol. Eine ganz andere, sehr große Gruppe sind die sexuellen Minderheiten. Der Tagesspiegel hat deswegen eine eigene Top-level-Rubrik „Queer“, vielleicht als einzige Tageszeitung weltweit außerhalb von San Francisco, dazu den Newsletter „Queerspiegel“. Es gibt auch einen eigenen Newsletter für Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Solche Angebote sind Multiplikationsmotoren, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Mit den hyperlokalen Angeboten ist der Tagesspiegel in jedem Stadtteil größer als alle anderen Zeitungen, auch in allen Ostbezirken. Das hätte ich nie vorauszusagen gewagt.
Wir brauchen General Interest dringend - wer liefert sonst den Gesamtüberblick?
Sebastian Turner, Table.Media
Gehen Sie davon aus, dass künftig mediale Spezialangebote die General-Interest-Titel ablösen?
Nein. Wir brauchen General Interest dringend - wer liefert sonst den Gesamtüberblick? Aber alle Medien sind immer mehr in einem Auslesewettbewerb „jeder gegen jeden“. Sie finden im Internet viele konkurrierende Angebote, die sie ständig vergleichen und beliebig kombinieren können. Für alle Medien stellt sich die Frage, wo sie da ihre Alleinstellung finden. Das hat was von Marketing im ersten Semester – man muss seinen USP klar formulieren können, verwaschene Leistungsversprechen reichen nicht. Für die lokalen Zeitungen lautet die Antwort natürlich: im Lokalen. Wer das aufgibt, wird irrelevant. Es gibt aber auch bundesweite Themen, in denen eine Region führend ist. Das bietet besondere Chancen. Die FAZ hat als Zeitung aus Frankfurt schon seit Ewigkeiten die Schwerpunkte Banken und Buchstadt und verdankt denen einen großen Teil ihrer Stärke. Beim Tagesspiegel haben wir das eigentlich nur nachgebaut für die Politikszene.
Table.Media setzt vor allem auf zahlende Nutzer. Erschließen Sie auch weitere Erlösquellen?
Ja. Wir lizenzieren unsere Inhalte auch an andere Medien. Die können sich einzelne Beiträge aus unserem Angebot herauspicken und veröffentlichen. Zu unseren Kooperationspartnern gehören die FAZ und die Zeit. Wir müssen nur aufpassen, dass nicht zu viel Zweitverwertung stattfindet.
Ist auch Werbung ein Thema?
Ja. Wir können nur in der neuen Organisation nicht alles auf einmal angehen. Daher haben wir klare Prioritäten, und die absolute Priorität Nummer 1 ist der Kompetenzaufbau in der Redaktion und dann an zweiter Stelle die schnelle Vermittlung in den jeweiligen Lesermarkt hinein.
Das dauerhafte Eintauchen in Tech-Startups ist nicht nur inhaltlich sehr lehrreich, sondern auch was die Gewinnung und Bindung von Tech-Talent angeht.
Sebastian Turner, Table.Media
Table.Media ist Teil Ihrer Beteiligungsgesellschaft Trafo. Dazu gehören Investments in Unternehmen wie der Online-Marktforschungsplattform Civey und der B2B-Suchmaschine Delphai. Was bringt das?
Es ist zunächst eine dringend nötige, tiefe Weiterbildung für mich. Ich gehöre zu den Heerscharen von Sozialwissenschaftlern in den Medienhäusern, die sich mit dem technologischen Wettbewerb herumschlagen müssen. Das dauerhafte Eintauchen in Tech-Startups ist nicht nur inhaltlich sehr lehrreich, sondern auch was die Gewinnung und Bindung von Tech-Talent angeht. Es geht ja nicht nur darum, sehr gute Journalisten zu binden, sondern auch um die Tech-Talente. Für die ist das neue Unternehmen Table in der Mediatech-Familie Trafo hochattraktiv, es ist für sie Tech mit Purpose. Wir bekommen Leute, die ich für den Tagesspiegel nicht gewinnen konnte.
Gibt es auch konkrete Synergieeffekte zwischen Trafo und Table?
Ja. Sie stehen übrigens allen Medien offen. Über Civey und Opinary kann man in kürzester Zeit Meinungsumfragen umsetzen, die wertvolles Material für neue Geschichten liefern und Leser binden – Stichwort Engagement. Delphai findet in kürzester Zeit in B2B-Fachgebieten Weltüberblicke. Ein Unternehmen, das zum Beispiel in der Oberflächenbehandlung von Metallen tätig ist, bekommt damit einen sehr guten Überblick über das Weltgeschehen in seinem Spezialmarkt. Solche Erhebungen können auch journalistisch interessant sein.
Der HORIZONT Kongress
Der HORIZONT Kongress findet am 30. Juni und 1. Juli 2022 im Gesellschaftshaus im Palmengarten in Frankfurt statt. Ein umfangreiches Clean & Safe-Konzept sorgt für die Sicherheit der Gäste vor Ort. Gleichzeitig lässt sich der Kongress live als Stream im Internet verfolgen. Einer der Höhepunkte ist die Verleihung des HORIZONT Award an die Männer und Frauen des Jahres 2021. Alle Informationen gibt es auf der Website des HORIZONT Kongresses. Der Preis für die Teilnahme beträgt zum Early-Bird-Tarif 840 Euro (zzgl. MwSt.). Inbegriffen sind die Teilnahme am HORIZONT Kongress und am HORIZONT Award. Live-Streaming-Tickets sind zum Preis von 365 Euro (zzgl. MwSt.) erhältlich. Darin enthalten sind der Zugang zu den Vorträgen per Live-Stream, die Teilnahme an Q&A und Umfragen sowie der Download-Zugang zu allen freigegebenen Präsentationen der Referenten und Sponsoren nach der Veranstaltung. Veranstalter des HORIZONT Kongress 2022 sind HORIZONT und dfv Conference Group.
Aber was zeichnet Delphai besonders aus?
Delphai verfügt über eine KI, die sehr viele fremdsprachige Quellen auswerten kann. Es ist zum Beispiel für die Planung der westlichen Digitalwirtschaft von höchster Bedeutung, wie viele Chipfabriken zur Zeit in China gebaut werden. Das weiß wohl nicht einmal die chinesische Regierung genau. Doch wenn man die Berichte erkennt, die in chinesischen Lokalzeitungen über entsprechende Bauprojekte erscheinen, kann man das einschätzen. Das liefert Delphai. Es gibt aber auch eine Leistung in der Gegenrichtung. Die KI erkennt den Kontext nicht – das kann dafür die China.Table-Redaktion. Delphai liest für China.Table abertausende Seiten auf Mandarin, China.Table trainiert dafür die Algorithmen von Delphai. Diese positive Wechselwirkung war mir überhaupt nicht bewusst, als wir angefangen haben, und es wird nicht die letzte sein.
Interview: Klaus Janke