Sie war 30 Jahre alt, als die Mauer fiel. Karola Wille hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ihr Jura-Studium absolviert, nebenbei eine Tochter bekommen und großgezogen, den Gang in die Wissenschaft beschritten, und sie hatte promoviert. Bald saß sie am Runden Tisch in Berlin und wirkte mit am „Beschluss über die Gewährleistung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit in der DDR“ und begleitete außerdem in der Arbeitsgruppe Medienrecht der Deutsch-Deutschen Juristenvereinigung „den Aufbau einer gesamtdeutschen demokratischen Medienordnung“. Das schützte sie nicht vor dem Gemunkel, als sie 2011 für die Nachfolge von MDR-Gründungsintendant Udo Reiter kandidierte.
Beruflich war die langjährige MDR-Justiziarin über jeden Zweifel erhaben. Die Defizite ihrer DDR-Ausbildung hatte sie frühzeitig erkannt und ausgemerzt. Nach der Wende hatte sie neben ihrer Arbeit an der Uni Hagen ein juristisches Fernstudium für Diplom-Juristen absolviert. Bevor sie 2001 Honorarprofessorin wurde, ließ sie zur Sicherheit ihre Doktorarbeit begutachten. Trotzdem streuten interessierte Kreise vor Willes Wahl zur Intendantin, man täte gut daran, ihre Vita zu durchleuchten: aufgewachsen in einem linientreuen SED-Haushalt in Karl-Marx-Stadt, geschieden von einem DDR-Militärstaatsanwalt – da sollte sich doch etwas finden lassen. Ließ sich aber nicht, und Sippenhaft ist abgeschafft.
Andere äußerten scheinbar besorgte Zweifel, ob Karola Wille der Aufgabe physisch und psychisch gewachsen sei. Wer das sagte, ahnte nichts vom Ausmaß ihrer Disziplin.
Rückblickend sagt die heute 58-Jährige: „Sich als Frau zu behaupten, ist das eine. Schwieriger finde ich Ost-West-Vorbehalte.“
Geradezu demütigend war für sie, in der Presse von sich als einer „fleißigen Werktätigen“ zu lesen. Nicht besser war, was ihr Udo Reiter hinterherwarf. Ihr Vorgänger lästerte in seiner Autobiografie über den „Putzeifer“, mit dem sie beim MDR aufräume. Der war allerdings notwendig bei all den Skandalen, die in seiner Zeit passiert sind und den Sender zum Teil bis heute beschäftigen.
Karola Wille wird Fleiß nachgesagt, wo bei Männern von Engagement die Rede wäre. Dabei geht es ihr schlicht darum, gut vorbereitet in Sitzungen zu gehen. Sie findet, etwas erreichen und andere überzeugen könne nur der, der den Sachverhalt durch und durch kennt und sich dazu eine eigene Meinung gebildet hat. Die Intendantin hat die Erfahrung gemacht, dass man das nicht bei jedem voraussetzen darf. Stattdessen bekommt sie dann zu hören, sie sei zu schnell und packe zu viel gleichzeitig an. Das habe allerdings auch einen Vorteil, sagt Wille: „Mir fehlt dadurch die Zeit, mich mit irgendwelchen Spielchen und Bemerkungen aufzuhalten.“
Wahrscheinlich war es auch besser, dass sie nicht alles mitbekam – etwa den Spott eines aus dem Westen stammenden Intendanten, ohne Untertitel sei die sächselnde ARD-Vorsitzende schwer zu verstehen.
Wer weiß, womöglich trug die sprachliche Färbung sogar zu ihrem Gelingen bei, so wie ihr immer etwas scheu wirkendes Lachen, während sie spricht. Unterschätzt zu werden hilft. Nebenbei ist Authentizität ein Wert an sich. Und sie ist nun einmal, wie sie ist.
Willes Bilanz jedenfalls lässt sich sehen. Wer die Uneinigkeit im Ersten kennt, ahnt, wie viel es abverlangt hat, ein Reformpapier zu entwickeln, das alle neun ARD- und auch die Intendanten von ZDF und Deutschlandradio gemeinsam unterzeichnet haben.
Ohne ihre Fähigkeit, Druck zu machen, sich im richtigen Moment aber auch zurückzunehmen, wäre das nicht gelungen, sagt einer, der bei den zahlreichen Treffen dabei war und Wille gut kennt.
Auch anderes hat Wille als ARD-Vorsitzende auf den Weg gebracht: zum Beispiel gleich zwei Studien zur Verteilung der Geschlechterrollen, sowohl vor der Kamera als auch dahinter. Beide offenbarten große Defizite. Und doch ist Wille das Krampfhafte bei der Geschlechterdebatte zuwider. Bis heute kann sie nicht verstehen, weshalb es zu diesem Aufstand kam, nachdem sie einen Mann zum Gleichstellungsbeauftragten machen wollte. Skeptisch sieht sie die Quote. Sie ist und bleibt in ihren Augen Ultima Ratio. Wichtiger sei, die Strukturen anzugehen.
In ihrem eigenen Sender, dem MDR, sind vier von acht Direktoren weiblich. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen liegt bei 32,4 Prozent. Zwar hat sich der MDR insgesamt im Ranking aller ARD-Sender auf den 4. Platz verbessert. „Für Zufriedenheit besteht allerdings noch kein Anlass“, steht im aktuellen Gleichstellungsbericht.
Ein typisch weibliches Manko? Vielleicht. So typisch weiblich wie jene Eigenschaften, die in Willes Augen unentbehrlich sind für eine moderne Unternehmensführung, wie sie ihr für den MDR vorschwebt.
Sie ist überzeugt: In Zeiten, die von Wandel und Unsicherheit geprägt sind, könne niemand erwarten, dass ein Einzelner an der Spitze die allumfassende Antwort auf alle Fragen kennt. Dazu, sagt Wille, sei die Marktdynamik zu instabil, seien die Herausforderungen zu komplex. Die Vorstellung, dass es den einen Chef gibt, der die Richtung vorgibt und dem alle anderen folgen, habe schlicht ausgedient. Postheroisch nennt sich dieser Führungsstil. Er fußt auf der Überzeugung: „Die Zeit des Vordenkens und Anweisens ist vorbei.“ Stattdessen gelte es auf andere Weise, Mitarbeitern Orientierung zu geben: indem die Führungsebene Unternehmenswerte definiert und selber vorlebt. Das ist aus Willes Sicht der Rahmen, innerhalb dessen Lösungen gemeinschaftlich gesucht und gefunden werden. Denn gerade die Notwendigkeit, medien- und bereichsübergreifend zu denken und zu handeln, erfordere die Mitarbeit und Kreativität aller Beschäftigten. Die gelte es entsprechend zu fördern, was Empathie, Kooperationsfähigkeit und Transparenz erfordere. Frauen, sagt Wille, seien damit klar im Vorteil.
Beim MDR hat die Intendantin in dieser Hinsicht reichlich zu tun. Sechs Jahre bleiben ihr noch, etwas zu bewegen. So lange dauert ihre aktuelle Amtszeit.
Die 58-Jährige rekapituliert: „Mit 36 Jahren kam ich als Justiziarin des Senders in eine Führungsposition und blieb auf diesem Posten, bis ich 2011 Intendantin wurde. 2023 endet meine zweite Amtszeit.“ Und dann?
Karola Wille lächelt: „Dann gibt es wieder mehr mich.“ Ulrike Simon