Blendle

Der Nachrichten-Kiosk im Praxistest

Blendle bietet zum Start die wichtigsten Zeitungen und Magazine
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Blendle bietet zum Start die wichtigsten Zeitungen und Magazine
Mit seinem Kiosk-Modell will das niederländische Startup Blendle den Journalismus revolutionieren – zumindest auf Leserseite. Heute startet das iTunes für Nachrichten auch in Deutschland. HORIZONT-Online-Partner t3n hat es getestet.
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Das ist Blendle

Die Regeln an deutschen Kiosken sind klar: Nicht gucken, höchstens anfassen. Wer in einer Zeitung oder Zeitschrift blättert, muss auch kaufen. Nur mal einen Blick reinwerfen in den neuen Spiegel oder die neue ZEIT? Ist nicht gern gesehen bei den Händlern. Im Internet gilt das zwar nicht, doch auch hier haben es die deutschen Publisher ihren Lesern in den letzten Jahren entweder zu leicht oder zu schwer gemacht. Bei vielen waren die Inhalte lange kostenlos und werbefinanziert, entschieden sich dann Medien mal für ein Bezahlmodell, reichten die Lösungen von taz bis FAZ – von freiwilliger Spende bis hin zu deftigen Premium-Preisen.

Doch ein gemeinsames Payment für alle deutschen Medien? Oder zumindest die großen Zeitungen und Zeitschriften? Ein „Pay per article“ für alle? In einem Markt, in dem sich die Mitspieler oft nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gönnen, offenbar nicht umsetzbar – selbst Lösungen wie Laterpay haben bisher den Durchbruch nicht geschafft. 

„Eine verdammt sexy Paywall“

Im Juni 2013 dann startete Springer einen Alleingang und warf BILD Plus auf den Markt , eine Paywall, die im Juli 287.633 zahlende Nutzer hatte, bei der Welt, bei der Springer ein ähnliches, aber etwas anders aufgebautes Payment-Modell fährt (Premium vs. Metered ), sind es 67.193. Bei knapp 317 Millionen Visits, die allein das digitale BILD-Angebot pro Monat hat, ist das zwar noch nicht wirklich beeindruckend, doch Springer sieht BILD Plus durchaus aus Erfolg – kein Wunder, kommen doch nach eigenen Angaben  53 Prozent der Gesamterlöse, 74 Prozent der Werbeerlöse und 72 Prozent des operativen Ergebnisses aus dem digitalen Geschäft. Mit seinem Optimismus ist Springer nicht alleine: Auch andere Medien sehen die Einführung von Bezahlmodellen positiv, so beispielsweise die Rhein-Zeitung aus Koblenz, die in allen Payment-Bereichen langsam, aber sicher wächst .

Doch bleibt es in Deutschland dabei, dass jeder Verlag sein eigenes Süppchen kocht. Bis heute. Das Startup Blendle aus den Niederlanden nämlich könnte das ändern. Blendle ist 2013 von Marten Blankensteijn und Alexander Klöpping gegründet worden und in der niederländischen Version am 28. April 2014 online gegangen – heute startet Blendle auch in Deutschland. Das Ziel: „Wir packen alle Zeitungen und Zeitschriften des jeweiligen Landes hinter eine (verdammt sexy) Paywall und gestalten sie so einfach, dass auch junge Menschen wieder für Journalismus zahlen.“ Um das zu erreichen, können sich Nutzer einen kostenlosen Account anlegen, Guthaben einzahlen und dann nach Herzenslust in den angebotenen Medien blättern. Wollen sie einen Artikel lesen, kaufen sie ihn – ein Rückgaberecht bei Nichtgefallen inklusive. Die Preise für die Artikel legen die Publisher selbst fest, 30 Prozent der Einnahmen behält Blendle.

Und das Angebot scheint anzukommen. Mehr als 400.000 Nutzer hat Blendle offiziellen Angaben zufolge allein in den Niederlanden.

Das Konzept indes scheint so verlockend, das Springer trotz eigener Payment-Lösungen nicht nur mit an Bord ist zum Deutschlandstart, sondern sich mit Axel Springer Digital Ventures auch an der 3,8 Millionen US-Dollar schweren Series-A-Finanzierung im Oktober 2014 beteiligt hat – gemeinsam mit der New York Times. Jetzt bietet der Verlag nicht nur die Boulevardzeitung B.Z. über Blendle an, sondern auch die Welt, die Welt am Sonntag, die BILD am Sonntag, Sport-BILD, Auto-BILD und Computer-BILD.

Springer ist dabei in guter Gesellschaft. Kaum ein großer Verlag, dessen Produkte Blendle nicht im Portfolio hat, seien es Süddeutsche, FAZ und FAS, ZEIT, Tagesspiegel oder Regionalzeitungen wie HAZ, Rheinische Post oder Thüringer Allgemeine. Dazu kommen Blätter wie Stern, Kicker, NEON, Gala, Brigitte, Cicero, Chip oder 11Freunde – und im englischsprachigen Bereich das Wall Street Journal, die Washington Post oder der Economist. Auch der Ausbau ist schon geplant: Unter „Demnächst verfügbar“ führt Blendle unter anderem die New York Times, den Express, den Kölner Stadt-Anzeiger, die Leipziger Volkszeitung oder die Märkische Allgemeine, bei den Magazinen sollen bald Vogue, Wired, Auto, Motor & Sport oder Exoten wie Flug-Revue und „Motorrad“ dazukommen.

Diese Bandbreite zeigt, mit welcher Wucht Blendle in den Markt gestartet und wie groß der Druck auf viele Publisher inzwischen ist, auch wenn das im Business-Sprech, etwa von Gruner + Jahr, viel freundlicher klingt: „Wir glauben, dass der Business-Case von Blendle für innovative digitale Medien einen Schritt nach vorne bedeutet, und wir sind überzeugt, dass die Benutzer in Deutschland Blendle auch lieben werden, deshalb freuen wir uns auf die Zusammenarbeit“, so Vorstandsvorsitzende Julia Jäkel . „Wir freuen uns, dass wir gemeinsam mit anderen angesehenen deutschen Zeitungen und Zeitschriften dabei sind, denn wir glauben, dass wir gemeinsam neue Plattformen und Business-Cases finden müssen, um unsere Marken in der digitalen Zukunft zu entwickeln.“

Blendle: Das iTunes für Nachrichten im Usability-Test

Blendle bietet Einzelartikel aus Zeitungen und Zeitschriften zum Kauf an
Bild: Blendle
Blendle bietet Einzelartikel aus Zeitungen und Zeitschriften zum Kauf an
Das Angebot ist also durchaus verlockend. Doch wie sieht es mit der Umsetzung aus? Und wie sieht es mit der Aussage von Spiegel-Redakteur Markus Böhm  aus, dass Blendle auch Menschen abseits der Medienbranche anrege, „über den Wert von Texten nachzudenken“? Die Gründer zumindest sind zuversichtlich nach den jetzt zu Ende gegangenen Beta-Tests. Deutsche Leser würden vor allem lange Texte mögen, im Durchschnitt läsen sie Artikel mit 1.000 bis 1.500 Wörtern,so Mitgründer Alexander Klöpping . Zudem habe ihn die Zahlungsbereitschaft der Testnutzer überrascht. Sehr viele hätten ihren Account mit 50 Euro aufgeladen, in den Niederlanden seien es nur zwischen fünf und zehn Euro gewesen. Und: Unter den zehn meistgelesenen Texten des Portals seien vor allem Interviews, Analysen und Essays. Blendle sei „keine Plattform für schnelle Nachrichten“.

Für seine 50 Euro bekommt ein deutscher Nutzer indes eine ganze Menge. Zwischen fünf und 15 Cent bezahlt er beispielsweise für kürzere Meldungen, 79 Cent für die Seite-3-Reportage der SZ. Clever gelöst von Blendle: Kauft der Nutzer einen Artikel, bekommt er die ganze Zeitung oder das ganze Magazin ein bisschen günstiger. Als Zahlungsmethoden stehen bislang SofortüberweisungPayPal und Kreditkarte zur Verfügung, aktuell kann das Konto mit fünf, zehn, 20 oder 50 Euro aufgeladen werden, wobei zu den fünf Euro 30 Cent Transaktionskosten hinzukommen. Dafür schenkt Blendle neuen Nutzern zum Start 2,50 Euro Guthaben.

Bei komplexeren Artikeln gerät das Layout durcheinander

Was die Usability angeht, eine der wichtigsten Beobachtungen gleich vorweg: Blendle war lange nur via Browser zugänglich, zum Deutschland-Launch aber hat sich das Startup Apps für iOS und Android gegönnt.

Doch auch bei der Web-App hat die Entwicklungsabteilung in Utrecht größtenteils saubere Arbeit geleistet. Zwar dürfte es für einige Smartphone-Nutzer ungewohnt sein, in die Zeitungs- und Magazinseiten nicht hineinzoomen zu können, aber trotzdem ist das responsive Angebot auf kleinen wie auf großen Bildschirmen ordentlich zu bedienen und bis auf eine unsaubere Description der deutschen Version vernünftig aufgebaut. Das Layout ist clean, die Benutzerführung übersichtlich, und so findet man sich schon nach wenigen Momenten gut zurecht in dem digitalen Kiosk mit seinem durchaus anständigen Angebot.

Um dem Nutzer mehr Orientierung zu bieten, hat Blendle einige Filter eingebaut. Zum einen kann er aus rund 20 Themenbereichen wie Sport, Wirtschaft und Politik, aber auch Verbrechen, „Geist & Seele“ oder Erziehung wählen – Ressorts, die von Journalisten und Bloggern kuratiert werden, darunter Wolfgang Blau vom Guardian, Miriam Meckel, Chefredakteurin der Wirtschaftswoche oder Simon Hurtz von der Süddeutschen Zeitung. Zum anderen gibt es  die sogenannten „Staff Picks“, bei denen Blendle-Mitarbeiter selbst die ihrer Ansicht nach besten Texte empfehlen. Grober Wehrmutstropfen, wie „Netzkolumnistin“ Angela Gruber schreibt : die Genderfrage bei den Kuratoren:
  • Tech: sieben Männer (Disclaimer: Der Autor dieses Texts ist einer davon ). Null Frauen.
  • Medien: sieben Männer. Null Frauen.
  • Interviews: drei Männer. Null Frauen.
  • Ausland: zwei Männer. Null Frauen.
  • Wissenschaft: drei Männer. Null Frauen.

Ganz allmählich kommen zwar auch hier Kolleginnen wie Isa Sonnenfeld  oderVictoria Reinsch  dazu, nach 2015 sieht die Auswahl von Blendle aber noch lange nicht aus. Als drittes Feature können sich Nutzer Alerts zu beliebigen Schlagworten oder auch Autoren anlegen und somit über ihre Lieblingsthemen immer auf dem Laufenden bleiben.

Neben dieser Vorauswahl kann aber natürlich auch in allen Medien geblättert werden. Die Vorschau reicht aus, um Themen zu selektieren, bei Interesse kann jeder Artikel einzeln gekauft werden. Und die Detailansicht? Funktioniert ordentlich. Bei den meisten Zeitungsartikeln ist das Blendle-Layout wohltuend aufgeräumt, lediglich bei komplexeren Text-Bild-Kombinationen gerät es durcheinander.

Daneben hakt es bei Blendle hin und wieder noch in Sachen Text-Übernahme, wie auch Blogger und t3n-Kolumnist Felix Schwenzel vor einigen Wochen festgestellt hat : „Offenbar werden viele Texte per OCR oder anderen 80er-Jahre-Technologien eingelesen und mangelhaft oder gar nicht nachbearbeitet. Worte werden von erratischen Trennzeichen zerfetzt, in Interviews sind die Fragen oft nicht von den Antworten zu unterscheiden, in manchen Texten fehlen Absätze oder Satzteile.“ Zwar scheint Blendle diese Probleme nach und nach anzugehen, in einigen Fällen können sie das Lesevergnügen jedoch ziemlich trüben. Und neben immer wieder fehlenden Bildern oder Bildunterschriften täte Blendle – wie Schwenzel zurecht anmerkt – auch gut daran, sich eine einheitliche Lösung für Meta-Angaben wie Autorennamen oder Datum einfallen zu lassen.

Ein Klick auf den Link und schon zahlt man

In Sachen Usability macht Blendle dennoch einiges richtig. Über einen Kalender können Nutzer selbst ältere Artikel lesen, wenn auch mit Ausnahmen (So gestattet beispielsweise die FAZ Blendle nur Artikel anzubieten, die nicht älter sind als 30 Tage). Etwas versteckt ist zudem die Suche, die nicht über ein globales Suchfeld gelöst wurde, sondern sich hinter den Alerts versteckt . Wer hier einen neuen Alert anlegt, kann entscheiden, ob er ihn dauerhaft speichern oder sich nur die Ergebnisse anzeigen lassen will. Dazu bietet Blendle eine simple Später-lesen-Funktion, die alle Artikel, für die man aktuell keine Zeit hat, auf einer Leseliste speichert sowie die Möglichkeit, Artikel seinem Pocket-Account hinzuzufügen.

Auch, was das Sharing angeht, hat man bei Blendle offenbar saubere Arbeit geleistet. Jeder Artikel lässt sich nicht nur auf Blendle selbst, sondern auch via Facebook, Twitter, LinkedIn oder E-Mail teilen – Vorschau-Snippets oder Twitter-Cards inklusive, auch wenn dabei der Teaser nicht immer perfekt ausgelesen wird.

Der weitaus größere Haken aber lauert hinter solchen Links: Ist ein Blendle-Nutzer angemeldet und klickt, dann zahlt er auch – ohne das noch mal bestätigen zu müssen. Zwar kann er den Artikel schnell wieder schließen und wir dann nicht zur Kasse gebeten und hat durch die Geld-zurück-Funktion auch die Möglichkeit, den Kauf später noch rückgängig zu machen – für ein Stirnrunzeln dürfte diese Vorgehensweise bei etlichen Nutzern aber trotzdem sorgen.

Interessant ist, dass Blendle – anders als versprochen – nicht ganz auf Werbung verzichtet. Zwar werden bei einigen (nicht allen) Tageszeitungen die ganzseitigen Anzeigen ausgeblendet, beim Spiegel allerdings folgt in der aktuellen Ausgabe auf die Titelseite erst mal eine Doppelseite von Chanel. Und auf den Einzelseiten findet die Werbung durchaus statt, nur anklicken kann der Leser sie nicht. Selbst wenn ich mich also dafür interessieren würde, welche Sonderangebote Lidl derzeit in den Regalen hat – ich müsste woanders danach gucken. Ob die Werbekunden das auf Dauer so witzig finden?

Besonders ärgerlich: Auch das Inhaltsverzeichnis der Blätter lässt sich weder vergrößern noch anklicken – und selbst einige Grafiken oder die beliebten Cartoon-Seiten von Spiegel oder Stern sind nicht wirklich lesbar. Auf Haderer, Tetsche, Til Mette oder Kittihawk müssen Blendle-Nutzer derzeit also noch verzichten – beziehungsweise mit miserabler Qualität leben. 

Kommt Blendle nicht ein paar Jahre zu spät?

Blendle-Gründer Marten Blankesteijn
Blendle
Blendle-Gründer Marten Blankesteijn
Bleibt am Ende die Frage, die auch Markus Böhm gestellt hat: ob Blendle nicht ein paar Jahre zu spät kommt. „Die Auseinandersetzung mit Einzelinhalten wirkt in Zeiten von Netflix, Spotify und Co. ein wenig gestrig. Bei Musik und Videos gewöhne ich mich gerade daran, viele Inhalte jederzeit verfügbar zu haben, zu einem monatlichen Festpreis. Und ich finde es wahnsinnig bequem, nicht ständig über den Preis nachdenken zu müssen. Blendle ist da anstrengender.“ Sicher ein berechtigter Einwand.

Einer allerdings, den Klöpping in einem ersten Resumée auf Medium.com kontert: „Damals haben wir Blendle als das ‚iTunes des Journalismus‘ gepitcht. Aber bei Blendle geht es nicht darum, wenig zu zahlen und viel zu konsumieren. Es geht um das angenehme Lesen und die Zahlung mit nur einem Klick.“ Immerhin bietet das Startup Nutzern die Möglichkeit, bestehende persönliche Abos mit Blendle zu verknüpfen und die Artikel dieser Medien zukünftig kostenlos in Blendle zu lesen. Zwar funktioniert das bislang noch nicht mit den deutschen Angeboten, die Entscheidung aber, das möglich zu machen, liegt bei den Verlagen – und die scheinen erst mal abwarten zu wollen. „Wir wollen erst mal Erfahrungen mit Blendle sammeln “, twitterte die stellvertretende Chefredakteurin der HAZ, Hannah Suppa, kürzlich. Die allerdings könnten positiver ausfallen, als sich mancher Publisher das vorstellt, bittet Blendle doch selbst für solche Artikel zur Kasse, die es bei den Online-Auftritten der Zeitungen kostenlos gäbe.

In jedem Fall wird Deutschland nicht das letzte Land bleiben, in das Blendle expandiert, zumindest nicht, wenn es weiter so gut läuft. „Wir werden so herausfinden, ob Holländer einfach nur verrückt sind oder ob das Konzept von Micropayments wirklich funktioniert“, schreibt Klöpping. „Hoffentlich wachsen wir so, dass wir eine brauchbare Alternative zu den bisherigen Modellen werden. Eine Alternative mit viel weniger Fokus auf Werbung und viel mehr Unterstützung von gutem Journalismus.“

Wenn ihr Blendle ausprobieren wollt, könnt ihr euch ab heute über blendle.com/de  registrieren. Aber nicht wundern: Seid ihr eingeloggt und ruft diese Seite auf, müsst ihr zunächst noch mal auf „Login“ klicken, erst dann geht es weiter zum Kiosk. Ein weiterer kleiner Bug, den die Macher hoffentlich bald beheben. 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf t3n 

 

 

 

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