Aufstand der Zielgruppe: Die bizarre Talkrunde des Thomas Knüwer

Sascha Lobo schwoll bei der Podiumsdiskussion der Kamm
Sascha Lobo schwoll bei der Podiumsdiskussion der Kamm
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Eigentlich ist so eine „Twitter Wall" bei Podiumsveranstaltungen ja eine einzige Respektlosigkeit gegenüber den Teilnehmern. Digital zwar, in Echtzeit und ungemein interaktiv - doch das macht es nicht besser: Hinter den Köpfen der Diskutanten auf der Bühne leuchten irgendwelche Kommentare, auch Unflätigkeiten auf, über den Kurznachrichtendienst Twitter in die Welt und mit Beamer an die Wand geworfen wie ausgekaute Kaugummis, bisweilen von Hinterbänklern im Auditorium, verborgen hinter lustigen Fake-Bildchen und Gaga-Namen, deren wahre Identität nicht jeder im Saal kennen muss.

Manchmal geht ein Raunen durch die Zuhörerreihen, manchmal ein Kichern. Die Leute schauen nach oben auf die „Wall", verrenken ihre Köpfe, zeigen auf die Tweets, tuscheln. Das muss ein schöner Anblick sein für die Redner auf der Bühne! Hört noch jemand zu? Die Podiumsteilnehmer selbst sehen nicht, was hinter ihnen über sie geschrieben wird - es sei denn, sie drehen sich um und wenden dem Saal den Rücken zu. Diskussionskultur 2.0.

Aber zugegeben: Eine Twitter-Wall kann auch mal ein interessantes Zeugnis abliefern über die Stimmungslage im Saal - wenn sich die Kommentare auf jemanden einschießen, der die Podiumsdiskussion wie kein anderer auf der Bühne in der Hand haben sollte: den Moderator. Thomas Knüwer, früher Redakteur beim „Handelsblatt" und nun als bloggender Berater unterwegs, ist dieses Kunststück gelungen. Seitdem er sich von der Payroll und aus den Klauen der klassischen Verlagswelt hat befreien können, leistet er, der Aussteiger, wichtige Aufklärungsarbeit über das Milieu. Rückständig sind die Verlage, ewiggestrig und digital ignorant, mindestens. Und, natürlich, sie hören nicht auf ihre Zielgruppen. Ein Vorwurf indes, der jetzt via Twitter-Wall ausgerechnet auf Knüwer höchstselbst einprasselte, zigfach.

„Expedition ins Ungewisse - Welche neue Medienwelt entdecken Verlage, Web und Social Media?" Das war das Thema der Podiumsdiskussion des dpa-PR-Tochterunternehmens News Aktuell am Mittwochabend in Hamburg. Hunderte waren gekommen, trotz schönstem Frühlingsabendwetter draußen. Doch lange Zeit gab es drinnen gar keine Diskussion, sondern nur eine wohl insistierend gemeinte Einzelbefragung des Podiums. Und leider nicht zur Sache, sondern etwa als selektive Blattkritik der „Zeit" und Kulturklagen darüber, dass ein schneller News-Takt bei Spiegel Online doch boulevardesk sei, irgendwie. Thema verfehlt (den Videobeweis gibt es auf der News Aktuell-Site): Unruhe im Saal, Tumulte auf der Twitter-Wall, Häme auf dem Podium. Dann, irgendwann, schwoll Teilnehmer Sascha Lobo der Kamm, ihm platzte der Kragen - und es wurde doch noch so etwas wie eine Diskussion. Oder zumindest ein bisweilen unterhaltsamer Austausch von Positionen und Visionen.

Katharina Borchert, Geschäftsführerin von Spiegel Online, appelliert an die Verlage, mehr in Technik zu investieren, da diese den Journalismus und das Nachrichtengeschäft immer mehr treibe. Ihr eigenes Haus, der Spiegel-Verlag, werde jedenfalls sein IT-Budget erhöhen und schnellere Produktzyklen auflegen. Mehr könne ein mittelständisches Haus auch kaum tun - oder sonst nur gemeinsam mit anderen Verlagen.

Giovanni di Lorenzo
Giovanni di Lorenzo
Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der „Zeit", widerspricht der steilen These, dass guter Journalismus nur noch online möglich sei: Im Vergleich zu vielen anderen Ländern verfüge Deutschland über eine hervorragende Presselandschaft; gleichwohl könne „Online ein Anreiz sein, sich als Journalist mit manchen Themen intensiver zu beschäftigen". Ihn treiben andere Fragen um: Ist digitaler Journalismus überhaupt finanzierbar? „Die meisten Verlage zahlen online drauf", so di Lorenzo. Und führt Technik-gestützte Web-Presse dazu, dass sich Leser nur noch gezielt über ihre Spezialinteressen informieren, ohne - wie bei der Zeitungslektüre - bisweilen über den Tellerrand hinauszulesen und sich auch mal überraschen zu lassen?

Auch Sascha Lobo, Publizist und Berater, ist beim Geschäftsmodell skeptisch: „Journalismus insgesamt, auch der im Web, wird in Deutschland zu 90 Prozent von Print finanziert." Doch beim Thema Leserverhalten sieht er auch Chancen - dadurch, dass sich Inhalte immer mehr durch Empfehlungen der Kontakte aus Facebook und Co verbreiten. Dass also nicht mehr die Verlage die Filter sind, sondern die so genannten Freunde. Die Chance: „Journalisten können und müssen diese originären Inhalte schaffen, die dann alle verlinken und diskutieren."

„Stern"-Chefredakteur Thomas Osterkorn verblüfft nicht nur mit kritischen Anmerkungen zu dem vom eigenen Verlagslager eingeforderten Leistungsschutzrecht: Angesichts der GEZ-Gebühren auch für PCs sei es zwar nachvollziehbar, dass auch Verlage für ihre Web-Inhalte bezahlt werden wollen - „doch ich bin nicht überzeugt, dass ein Leistungsschutzrecht der richtige Weg ist". Und während er für seinesgleichen, für Zeitschriften, in punkto digitaler Geschäftsmodelle eher gelassen mit der Schulter zuckt („Wir alle sind Suchende"), hat er für regionale Tageszeitungen eine handfeste Warnung parat: „Im Lokaljournalismus haben sich die Verlage durch Qualitätsverluste die größte Lücke reißen lassen, eine riesige offene Flanke." Hier, prophezeit Osterkorn, werden die Verlage bald angegriffen: durch neue professionelle journalistische Gratis-Onlineangebote, allein finanziert durch Werbung.

Widerspruch von Borchert: Im Gegenteil, „es ist im Lokalen noch viel schwieriger als überregional, sich durch Werbung zu finanzieren" - weil die kleineren Werbekunden vor Ort noch gar nicht soweit seien. „Und wenn sie soweit sind, dann werben sie bei Groupon und Foursquare", ergänzt Lobo mit Blick auf Gutscheinvermarkter und Lokalisierungsdienste. Ja, es hätte eine richtig gute Diskussion geben können an diesem Abend in Hamburg. rp



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