Der legendäre Web Summit fand in dieser Woche zum letzten Mal in Dublin statt. Das Programm war teilweise so lahm wie die Internetverbindungen auf dem Veranstaltungsgelände. Ein Abgesang auf einen Kongress, der an seiner Größe zugrunde gehen dürfte.
Kritik hat die Eigenart, niemals gerecht, sondern allenfalls gerechtfertigt zu sein. Auch dieser Rückblick auf die größte europäische Internetkonferenz – ja, sie ist noch größer als die Dmexco – kann kein objektives Bild widergeben. 40.000 Gäste, das bedeutet dutzende „Zielgruppen“, die bedient (und denen teilweise das Geld aus der Nase gezogen) werden soll. 1000 Redner – da ähnelt die Zusammenstellung eines individuellen Programms für die drei langen Eventtage einem Lotto-Spiel: Man kann hoffen, sechs Richtige zu ziehen, die Wahrscheinlichkeit geht eher gegen Null.
Content ist wieder King, aber man stößt nicht zu ihm durch
Je digitaler die Welt wird, desto wichtiger werden Events, das echte, und je nach Dichte und Größe hautenge Aufeinandertreffen von Menschen. Und je fragmentierter die digitale Welt wird, desto mehr Nischen-, Spezial- und Sonderveranstaltungen – nationale wie internationale – gibt es.
Es gibt die Dmexco. Es gibt die OnlineMarketing Rockstars. Es gibt Kongresse, die beschäftigen sich mit UX, User Experience. Andere Veranstaltungen drehen sich um Performance-, Realtime- oder Tech-Marketing. Agenturen entwickeln eigene Veranstaltungsformate wie Sinner Schrader mit Next und Syzygy mit dem Digital Innovation Day. Wir kennen Re:Publica, DLD, HORIZONT Digital Marketing Days.
Und dann haben wir noch den Web Summit. Ein schönes Beispiel, welche erstaunlichen Geschichten das Internet manchmal schreibt. 2010 launchte der Ire Paddy Cosgrave in Dublin den ersten Summit. Er hatte es, wie auch immer, geschafft, Silicon-Valley-Stars wie Twitter-Gründer Jack Dorsey ins regnerische Irland zu locken. 400 Gäste lauschten den Internet-Heroen und sorgten für einen frühen Mythos, der zu dem gigantischen Wachstum auf 40.000 Gäste führte.
Der Web Summit als europäische Version von SXSW? Das Davos für Geeks?
Wenn dem so ist, sind die Originale schlechter als ihr Ruf. Dass Wlan ein Problem sein kann, gehört auch im 21. Jahrhundert noch zum Event-Alltgag. Ein Kongress, der den Anspruch hat, das Mekka zumindest der europäischen Internet-Industrie zu sein, sollte die Überlastung von Internet- und Telefonverbindungen vermeiden können. Gründer Cosgrave hatte sich schon im vergangenen Jahr öffentlich über die Internet-Services in Irland mokiert und angedroht, das geliebte Dublin zu verlassen.
Eine Idee wird unversehens und fast zufällig zu einem Millionenbusiness, und dabei gehen die guten Vorsätze flöten
Volker Schütz
Das wird nun wirklich passieren. 2016 wird der Web Summit auf vier Tage erweitert in Lissabon über die Bühne gehen. Dann will Cosgrave 80.000 Menschen nach Südeuropa locken. 10.000 Internet-Frauen werden kostenlos eingeladen. Die, die kommen, sparen eine Menge Geld. Zwischen 1000 und 5300 Euro kosteten in diesem Jahr die Tickets für das Event: Die teuren VIP-Tickets ermöglichten unter anderem Zugang zur jeweiligen Speakers Corner. Aber wer sagt denn, dass der teure Backstage-Pass eine Party oder zumindest ein Gespräch mit dem Redner einschließt?
Wenn das der Tierschutzverein mitbekommt: Alles so schön bunt hier!
Die Entwicklung des Kongresses ist ein Spiegelbild von Teilen der Internet-Ökonomie: Eine Idee wird unversehens und fast zufällig zu einem Millionenbusiness, und dabei gehen die guten Vorsätze flöten. Ein besonders pikantes Beispiel für die Entwicklung der Gelddruck-Maschine Web Summit ist der vor einigen Jahren eingeführte Foodsummit, auf dem sich die zahlenden Gäste mit Essen und Trinken versorgen konnten. In diesem Jahr mussten die Teilnehmer 20 Euro täglich für ein Essen und ein Getränk berappen. Nicht nur die „Irish Times“ mokierte sich über die Unverschämtheit des Veranstalters. Auch im Netz hagelte es Kritik.Und dann das Programm. Der Summit ist unterteilt in 9 Einzelsummits (Marketing, Enterprise, Content, Sport, Society, Machine, Design, Startup und Centerstage). Ich schrieb ja eingangs: Kritik ist immer ungerecht. In diesem Fall, weil ich mich nur auf die Panels im Design und Marketing Summit konzentrierte. Mir ging es nicht um Party und um den Pub Summit. Ich wollte auch nicht die Visitenkarten von Dutzenden Mobile Startups sammeln. Das hätte man aber wahrscheinlich machen sollen - oder die bunten Schafe auf der Wiese der Royal Dublin Society füttern. Erkenntnisgewinn – und das sollte man für eine dreitägige Veranstaltung schon verlangen können – war gleich Null. Die Redner verhakten sich meist in Bekannt-Belanglosem: Wir sind mitten in der digitalen Revolution. Mobile ist in. Content ist (wieder) King. Marketing muss sich an den Bedürfnissen der Konsumenten orientieren. Die Welt verändert sich.
Mag ja sein, dass wir in revolutionären Zeiten leben. Aber warum wirken die Redner in Dublin so wie Ministranten in der Kirche, die zum 100sten Mal das „Vater unser“ aufsagen? „It’s really dull!“ schimpfte der britische Syzygy-Vorstand Andy Stevens nach der sechsten „Mobile is the big thing“-Predigt. Er war nicht der Einzige, der kopfschüttelnd aus dem einen oder anderen Panel flüchtete. Klar gab es Stars wie Michael Dell, mit dem brav Konversation betrieben wurde.
1000 Redner in drei Tagen – das ist eigentlich ein gigantisches Aufgebot an Intelligenz, Avantgarde, Geld und Visionen. Doch beim Websummit 2015 ist die Quantität nicht in Qualität umgeschlagen. Im Gegenteil. Weil dem Dauergeraune über das neue goldene Zeitalter die Rockstars fehlten, blieb der Aha-Effekt auf der Strecke. So blieb der Eindruck: Ausgerechnet im Digital-Universum, in dem angeblich permanent etwas Neues passiert, passiert derzeit nichts, was man nicht schon vor einem halben Jahr bei Burdas DLD oder den HORIZONT Digital Marketing Days viel prononcierter hätte erfahren können.
"Ist der Web Summit zu groß, um noch attraktiv zu sein?" fragte
das Internetmagazin T3N im vergangenen Jahr. Die Antwort nach drei Tagen Dublin im November 2015 kann nur heißen: JA!