Er hat für den Bayerischen Rundfunk genauso wie für Radio Gong gearbeitet, Artikel in der „FAZ“ und dem „Berliner Tagesspiegel“ geschrieben. Doch bekannt geworden ist der 41-jährige Gutjahr als Internet-Reporter, der 2010 sein stundenlanges Schlangestehen vor dem New Yorker Apple-Store wegen eines iPad-Kaufes genauso dokumentierte wie im selben Jahr die Revolution in Ägypten. Er ist einer der Gründungsjournalisten von Krautreporter, die der Menschheit zumindest in Deutschland zeigen wollen, wie anzeigenfreier Top-Journalismus im Netz funktioniert.
Mit anderen Worten: Richard Gutjahr ist nicht irgendwer. Er ist eine Ikone des deutschen Netzjournalismus.
Er habe alles probiert in seinem Journalistenleben, verrät er auf einer Rede in Österreich, die er jetzt auf seinem
Blog Gutjahr.Biz veröffentlicht hat: „Von Twitter bis Medium, von YouTube bis Periscope, von den vielzitierten Lousy Pennies durch Micropayment bis zur Millionenfinanzierung via Crowdfunding.“ Nichts habe verfangen und nun sei er „ratloser denn je. Ich bin vom Weg abgekommen, habe meinen Glauben verloren. Meinen Glauben daran, dass wir das wieder hinbekommen mit dem Journalismus, der uns alle ernährt.“
Journalismus erlebe eine „lausige Zeit“, Gutjahr ärgert sich, nicht programmieren gelernt zu haben.
Es scheint: So wie sich einst Sascha Lobo vom lautstark-bedingungslosen Apologeten des Netzes zum ebenso bedingungslosen Skeptiker entwickelt hat, ist Gutjahr vom begeisterten Anti-Mainstream-Journalisten zum tief frustrierten Grabredner geworden. Sein Abgesang liest sich wie der Abschiedsbrief eines sitzengelassenen Liebhabers –
Big Depression statt
Big Love.
Warum erschließt sich so genau allerdings nicht. Sicher: Reiner Printjournalismus erlebt durch Aborückgänge und Netzkonkurrenz begründete Sinnkrise. Was wiederum erklärt, dass Edel-Autoren wie Cordt Schnibben - einer der Edel-Autoren der Goldenen Printära - die Umbrüche der Medienwelt, die uns seit 20 Jahren begleiten, im Jahr 2015 als „Tsunami“ wahrnehmen (und Gutjahr dies dann in seinem Grabgesang zu einer Sintflut, „die uns alle früher oder später ins offene Meer hinausspülen“ wird, steigert).
Es mag ja sein, dass die Epoche, in der Journalismus mit Text gleichgesetzt werden konnte, sich allmählich dem Ende zuneigt. Aber darf man, weil einem die „Zeit des Umbruchs“ zu lange dauert, den Journalismus insgesamt verabschieden?
Ich bin da eher auf der Seite von "FAZ"-Digitalchef Mathias Müller von Blumencron:
„Das Internet ist das beste Instrument, was Journalisten je an die Hand gegeben wurde. Punkt.“ Nicht nur, weil es die Recherchemöglichkeiten so unendlich erweitert. Sondern weil die Darstellungsmöglichkeiten so irre vielseitig geworden sind. Und weil es nicht nur zwei oder drei, sondern auf einmal 200 und 300 Meinungen gibt.
Der frustrierte Gutjahr schreibt: „Viele glauben noch immer, dass gerade in Zeiten, in denen die Fülle an Informationen geradezu explodiert, die Menschen vermehrt Orientierung brauchen. Das mag schon stimmen, das Problem: Wer sagt, dass diese Rolle auch in Zukunft uns Journalisten zukommt? Im Internet sind es nicht länger allein wir Journalisten, die für Orientierung sorgen – sondern vor allem Anbieter wie Google, Facebook oder Twitter.“
Was ist so schlimm dran, dass Journalisten nicht mehr allein für Orientierung sorgen und ihre Feldherren-Rolle verloren haben? Dies wurde doch lange von Gutjahr und anderen gefordert, bejubelt und gelebt. Statt der Menschheit zu erzählen, wo es lang geht, sollten wir Zuhörer, Rat- und Impulsgeber in einem plattformübergreifenden Diskurs werden – was letzlich zu den zahlreichen Plattformen von Einzeljournalisten genauso führte wie zu einem Crowd-Projekt wie Krautreporter. Auch bei dem aus Sicht von Gutjahr „Mainstream“ Medium HORIZONT Online glaubt kein Redakteur, über die alleinseligmachende Weisheit in Marketing- und Medienfragen zu verfügen.
Das ist jetzt alles für die Katz? Merkwürdig – zumal dem einst so alternativen Gutjahr dann ausgerechnet das einfällt, was auch klassische Medienmanager als schärfstes Geschütz auffahren, wenn es um Zustandsbeschreibung von Medienkultur und –ökonomie geht: die vermeintlich so brutale Übermacht von Google , Facebook und Co.
Ist Journalismus tot, weil Google Snippets von Artikeln bringt (Gutjahr: „Machen Sie den Reality-Check: An wen wenden Sie sich zuerst, wenn Sie nach einem Thema suchen – Google oder die Startseite Ihrer Tageszeitung?“). Google-Snippets sorgen doch dafür, dass mehr Menschen die Chance haben, interessante Texte zu lesen. Ist, weil man feststellen muss, dass es in Medien, wie in anderen Wirtschaftszweigen, Machverhältnisse gibt, gleich der ganze Journalismus insgesamt am Ende?
Google und Facebook verändern den Journalismus - ja. Aber sie sind nicht die Totengräber. Das sind eher die, die Journalismus für tot erklären.
Das Netz, hat Mathias Müller von Blumencron im HORIZONT-Interview gesagt, war noch nie ein Platz für Romantik. Richard Gutjahr hat seine
Blaue Blume verloren und ist melancholisch geworden. Das ist schade. Der deutsche Journalismus braucht helle und neugierige Geister wie ihn. Unser Zeitalter sei nicht das Zeitalter der Geschichtenerzähler, der Journalisten, schreibt Gutjahr: "Es ist das Zeitalter für Menschen mit Visionen, ein Zeitalter für Gründer, für Unternehmer." Wer, wenn nicht Journalisten, sollen denn die Geschichten der Visionäre, Gründer und Unternehmer aufschreiben? Das kriegen Google und Facebook auch nicht mit Hilfe textender Roboter hin.