Lässt sich Twitter noch retten? Nach den
vorgelegten Quartalszahlen wachsen die Zweifel – auch wenn CEO Jack Dorsey und die neue Marketingchefin Leslie Berland die „einzigartige Magie“ der Kommunikationsplattform zum Leben erwecken möchte. Doch nur mit klugem Marketing werden sich die zentralen Probleme nicht lösen lassen.
1. Die Silicon-Valley-Falle
Die digitale Revolution disruptiert klassische Industriezweige und Produkte, sie frisst aber auch ihre eigenen Kinder. Twitter war eine Zeitlang ein gefeiertes Start-up. Es stand für neue Formen der Kommunikation. Und es war der erwachsene, aber trotzdem coole Gegenentwurf zum Twen-Social-Network Facebook. Doch mittlerweile ist Twitter das Paradebeispiel dafür, wie ein einst gefeiertes und gehyptes Jungunternehmen an den eigenen Ansprüchen, Management-Fehlern und an der Silicon-Valley-Ökonomie scheitert. Diese basiert auf wenigen, aber ziemlich brutalen Gesetzen.
Das erste lautet: Ein Start-up sollte möglichst rasch den Garagenstatus verlassen und sich zu einem idealerweiser global agierenden Wachstumsunternehmen mausern. Twitter ist als Unternehmen fulminant gestartet, aber hat ebenso stark nachgelassen. Von der Massenbegeisterung, die Twitter in den USA nicht nur bei außergewöhnlichen politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen auslöst, ist beispielsweise in Deutschlands nichts zu spüren. Das „Land der Dichter und Denker“ braucht mehr Platz für Gedanken, als sie 140 Zeichen zulassen.
Das zweite Gesetz der Internetökonomie lautet: Die digitale Ökonomie drängt zum Oligo-, wenn nicht sogar Monopol. Es gibt eine Suchmaschine. Es gibt eine globale E-Commerce-Plattform. Es gibt ein soziales Netzwerk. Es wird eine Kommunikationsplattform gebem – Twitter ist es bislang in keiner Kategorie gelungen, ganz vorne mitzuspielen.
Das dritte Gesetz hat Sascha Lobo in seiner fulminanten Twitter-Analyse in Spiegel Online in die Überschrift gepackt:
Weltherrschaft oder Tod. Heißt: Investoren interessiert nur eine Frage. Die lautet: Wo ist das nächste Google/Facebook/Apple/Amazon, alles andere kann mir gestohlen bleiben.
Twitter hat schon in den letzten Monaten keine Nutzer gewinnen können. Jetzt gingen die Mitglieder von 320 auf 305 Millionen zurück - das ist für Internet-Wachstumsunternehmen tödlich, auch wenn der Gewinn pro Aktie höher war, als Analysten erwartet haben. Und auch wenn der Umsatz mit rund 630 Millionen Euro im erwarteten Rahmen lag.
Schon vor dieser Bilanz verblassten die Twitter-Zahlen neben dem Wahnsinns-Erfolg des Zuckerberg-Imperiums. ei den Nutzerzahlen hat nicht nur Facebook, sondern auch die viel kleinere Tochter Instagram den Konkurrenten Twitter locker-lässig überholt – so wie ein Rennpferd ein widerspenstig-störrisches Maultier abhängt.
2. Produktstrategie – welche Strategie?
Ein großes Problem von Twitter ist, dass den verantwortlichen Managern an der Spitze das Gefühl abhanden gekommen ist, was die Nutzer wollen. Anders gefragt: Wie sieht überhaupt der „typische“ Twitter-Nutzer im Januar 2016 aus?
Tatsächlich gibt es
den Nutzer nicht. Was es gibt ist ein dramatische Kluft zwischen den neu dazugestoßenen Gelegenheitsanwendern und den Twitter-Freaks der ersten Stunde. Letzere fühlen sich wohl mit dem chronologischen, für Außenstehende chaotisch-unübersichtlichen Nachrichtenstream. Für sie ist Twitter ein Informationspool und kein Social-Networking-Tool. Neuere Nutzer und Gelegenheitsanwender dagegen wünschen sich eher eine stärkere Orientierung und Filter, die die Lektüre vermeintlich erleichtern – so wie bei Facebook ein Algorithmus bestimmt, was die Nutzer sehen.
Die entscheidende Frage der Positionierung lautet also: Nachrichtentool oder Miniatur-Facebook? CEO Jack Dorsey tendiert zur Facebook-Variante, weil aus seiner Sicht nur diese Variante das Nutzer-Wachstum verspricht, auf das die Investoren so verzweifelt warten.
Zur großen Verwirrung sorgten vor wenigen Tagen die Berichte über das Ende der chronologischen Reihenfolge zugunsten einer von Algorithmen definierten Abfolge. Dorsey dementierte nur halbherzig – und konnte unter dem
Hashtag #RIPTwitter wortreiche Abgesänge auf sein Unternehmen lesen.
Wie wir wissen, blieb die große Timeline-Revolution aus. Stattdessen gab Twitter wenige Stunden vor der Bekanntgabe der Quartalszahlen eine behutsame Veränderung der Timeline nach
Relevanz-Kriterien bekannt.
Sobald ein Nutzer Twitter öffnet, werden die wichtigsten Tweets am Anfang seiner Timeline gezeigt – beginnend mit den neuesten Aktualisierungen. Direkt darunter werden ihm alle anderen Tweets in chronologischer Reihenfolge angezeigt.Man kann Dorsey nicht vorwerfen, dass er nichts macht und nicht experimentiert. Im Gegenteil. Doch seine Experimentierlust überfordert eher viele Nutzer. Noch mehr Beispiele gefällig? Beispiel Nummer eins: Die von Dorsey vor wenigen Wochen angestoßene Debatte über die Länge von Tweets. Dass sich der CEO Twitter als Dienst vorstellen kann, der 10.000 Zeichen zulässt, belegt den Zickzackkurs, der für Börsianer wie für
Nutzer zunehmend frustrierender wird.
Beispiel Nummer 2: Die Ankündigung, dass künftig „wertvolle Nutzer“, sprich VIPs und Hardcore-Twitterer, keine Werbung mehr angezeigt bekommen. Warum eigentlich? Die eminent wichtigen Influencer und Promis sind doch eine hochattraktive Zielgruppe, für die mancher Werbungtreibende bereit ist, viel Mediageld zu bezahlen.
Im Laufe der Zeit ist bei Beobachtern der Eindruck entstanden: Dorsey hat viele Ideen. Aber er hat keinen Plan.
3. Die Frage nach dem Führungspersonal
Jack Dorsey war schon zwischen 2006 und 2008 CEO und musste seinen Hut nehmen. Auch jetzt agiert er unglücklich. Im Oktober entließ er 330 Mitarbeiter, 8 Prozent der Belegschaft, darunter Entwickler und Softwareingenieure. „Die Produktentwicklung in einem kleineren Team ist deutlich schneller“, tönte Dorsey damals. Aber auch deutlich chaotischer.
Der Eindruck entsteht: Dorsey hat viele Ideen. Aber hat er auch einen Plan?
Ende Januar hat Twitter auf einen Schlag fünf Spitzenmanager verloren. Inwieweit
die neue CMO Leslie Berland zusammen mit dem Dorsey-Getreuen COO Adam Bain Twitter reanimieren können, wird sich zeigen.
Es muss viel passieren, wenn das faszinierende Tool eine Zukunft haben soll. Und ob Dorsey der richtige Mann an der Spitze ist, darf bezweifelt werden.
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