Volker Schütz
Mut zum Experiment

Die FAZ mit neuer Nachrichten-App

Die für Experimente nicht gerade berühmte "Frankfurter Allgemeine Zeitung" wagt eine mutige Line-Extension. Die App FAZDerTag präsentiert, laufend aktualisiert, die wichtigsten Meldungen der letzten 24 Stunden. Das Konzept könnte aufgehen, das sagt zumindest mein Gefühl beim Vorab-Test.
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Jeder kennt diese Situation: Man steht oder sitzt in der Straßenbahn, holt sein Smartphone aus der Tasche und steuert eine mobile Nachrichten-Site oder –App an. Die Bahn ruckelt, der Nachbar drückt, man hat kaum Arm- und Fingerfreiheit, um zur gewünschten Nachricht zu swipen oder scrollen.




Mobile Nachrichtenlektüre macht nicht immer viel Spaß, weil sie zu umständlich ist.

Genau dies ist der Ansatzpunkt von DerTag. Ressorts und Rubriken gibt es nicht. Die einzige Wahlfreiheit für den Leser besteht darin, dass er bei der Reihenfolge der angezeigten Nachrichten zwischen „FAZ-Redaktion“ und „Meist geteilt“ wählen kann. Es gibt keine Navigation(sleiste), dafür eine Homepage, die die aktuellen fünf Top-Nachrichten der FAZ.net-Redaktion mit großen Bildern präsentiert. Drei Kommentare und sieben weitere, etwas ältere Meldungen schließen sich an. Die volle Nachricht öffnet sich, wenn man auf die jewelige Headline tappt.
Sehen ganz schön unterschiedlich aus: Links die Home der FAZ.net-App, rechts die Einstiegsseite von DerTag
Screenshot HORIZONT
Sehen ganz schön unterschiedlich aus: Links die Home der FAZ.net-App, rechts die Einstiegsseite von DerTag


Die App aktualisiert sich nicht automatisch. Stattdessen zeigt ein roter Hinweis über dem FAZ-F, dass neue Artikel vorliegen. Erst ein Tapp auf das F aktualisiert die App. Auch das ist eine gute Idee: Mobile Lesesituationen sind oft kurz, vor allen Dingen störungsintensiv. Und nach einer Unterbrechung will man schließlich die Nachricht, die man angefangen hat zu lesen, zuende konsumieren.


Die simple Bedienung und Nutzerführung - Motto: "Weniger ist mehr" - führt Nutzer geschickt auf die eigentlichen Inhalte: Nachrichten vor allen Dingen aus dem Politik- und Wirtschaftsbereich.

That’s it.


Man könnte nun sagen: Nanu, ähnlich funktioniert doch die in diesem Jahr bei den Digital Media Awards ausgezeichnete App Welt Kompakt (Slogan: „News für zwischendurch“). Stimmt aber nicht. Welt Kompakt arbeitet auf der Home mit kleinen Bildern, größerer Headline und für Mobile teilweise extrem langen  Texten. DerTag bringt umgekehrt – und überraschend für die früher so fotoscheue FAZ – große Bilder mit einer vergleichweise kleinen Headline. Und der gängige Soft-Boulevard des Springer-Titels („Home Simpson ist schuld, wenn Kids Junkfood essen“, „Weißer Hai strandet bei der Möwenjagd, wird gerettet“) wäre für die FAZ-App undenkbar.
So sieht der Einstieg in DerTag heute um 9 Uhr 30 aus: Großes Bild plus Headline
Screenshot DerTag
So sieht der Einstieg in DerTag heute um 9 Uhr 30 aus: Großes Bild plus Headline
So sieht zur selben Zeit die Einstiegseite von Welt Kompakt aus
Screenshot Welt Kompakt
So sieht zur selben Zeit die Einstiegseite von Welt Kompakt aus



Das Prinzip „Große Bilder plus Headline plus Text, aber nur von den wichtigen Meldungen“ der von Jung von Matt/Next designten App orientiert sich laut Digital-Chef Mathias Müller von Blumencron nicht an deutschen, sondern an anglo-amerikanischen Angeboten. Beispielsweise „The Economist“. Das Magazin präsentiert mit der kostenpflichtigen App Economist Espresso die wichtigsten Meldungen des Tages. Diese sind so gut und strukturiert aufgebaut, dass man die Texte bei einem Espresso – oder eben bei einer wackeligen Bahnfahrt - lesen kann, und trotzdem wesentlich besser informiert wird als dies mit Info-Snippets auf Facebook und Twitter möglich ist.
Artikelseite aus DerTag
Screenshot DerTag
Artikelseite aus DerTag
Artikelseite von Economist Espresso
Screenshot Espresso
Artikelseite von Economist Espresso



Im Gegensatz zu Espresso ist DerTag kostenlos. Werbung – die Testversion war werbefrei – wird zwischen die einzelnen Bildanrisse platziert. Im Herbst, wenn die FAZ ihre digitale Zeitung launchen wird, sollen kostenpflichtige FAZ-Artikel in DerTag  publiziert werden.


Kannibalisiert DerTag die „klassische“ FAZ-App oder die mobile FAZ-Website? Möglicherweise Ja.


Das stört Müller von Blumencron nicht. Er weiß: Wer nicht den Mut zu Kannibalisierung hat, wird im digitalen Zeitalter nur selten mit Erfolg belohnt. Von daher wird es interessant zu beobachten sein, ob und wie DerTag die Nutzung der bisherigen FAZ-App verändern wird.


„Keine Experimente“ – der alte Adenauer-Slogan galt lange für die FAZ. Ebenso lange bestätigte die Medienmarke die These des Disruptor-Theoretikers Clayton Christensen, derzufolge Erfolg der größte Feind der Innovation ist („Innovator’s Dilemma). Nun sind die Zeiten rauher – und siehe da: Es tut sich etwas bei der vermeintlich so konservativen FAZ:  DerTag ist der Beleg für den neuen Mut zum Experiment.




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