Was haben Abtreibung und die Euro-Schuldenprogramme, aktuell für Griechenland, gemeinsam? Beides kann man so oder so bewerten. Und beide Fragen eignen sich vortrefflich für Medienkampagnen, wie überhaupt jedes politisch-gesellschaftliche Streitthema. Schräg wird’s nur, wenn Medienkritiker manche Kampagnen loben – und andere verteufeln, gar stoppen wollen. Und noch schräger wird’s, wenn dies auch Journalisten tun.
Nein, man muss die Selfie-Aktion der "Bild" gegen neue Finanztransfers nach Griechenland nicht mögen. Man muss diese Kampagne sogar dann nicht mögen, wenn man die auf Schulden und Weichwährung gebaute EU-Finanzpolitik selber mit allergrößter Sorge verfolgt. Man muss Medienkampagnen generell nicht mögen, vor allem jene Kampagnen nicht, die mehr auf Holzhammer setzen als auf Florett. Man sollte dann nur klar sagen, was genau man kritisiert: Die Kommunikationsform der Kampagne – oder schlicht ihr Thema, ihre Haltung.
Dem Deutschen Journalistenverband (DJV) und vielen Journalisten gelingt diese Trennung aktuell nicht: Der DJV etwa fordert "Bild" auf,
die laufende Aktion "sofort" zu stoppen. Eine Kampagne, die direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen wolle, verbiete sich mit der beschreibenden Aufgabe des Journalismus, so der DJV-Bundesvorsitzende Michael Konken. Die Selfie-Aktion überschreite die Grenze zur politischen Kampagne.
Da reibt man sich verwundert die Augen. Gibt es nicht unzählige Medienkampagnen, die jene nun so empörten "Bild"-Kritiker tolerieren, sogar ausdrücklich gutheißen? Wenn nur das Thema, die Meinung dahinter, stimmt? Unweigerlich kommt einem da die – darf man dieses Wortbild hier überhaupt wählen? – Mutter aller Medienkampagnen mit Testimonials in den Sinn: "Wir haben abgetrieben", riefen 1971 mehr oder weniger prominente Frauen mit Foto vom Cover des "Stern", freimütig oder sogar stolz (siehe Bild unten). Insgesamt machten bei dieser Medienaktion fast 400 Frauen mit, auch nicht prominente, wie jetzt in "Bild". Nur Selfies gab es damals so noch nicht.
Schon die Wortwahl der allgemeinen Medienkritik ist vielsagend verzerrend: Bei genehmen Aktionen, da "zeigen mutige Menschen Gesicht", sie "bekennen sich" zu einer Meinung. Bei nicht genehmen "Bild"-Aktionen hingegen lassen sich "ein paar dämliche Deutsche" ("Tagesspiegel"-Chef Lorenz Maroldt) wie aktuell "vor den Karren der ,Bild' spannen" (turi2).
Kurz zurück in die 70er: Der "Stern"-Auftritt war ein Protest gegen den damaligen Strafrechtsparagraphen 218, dem zufolge Abtreibung fast ausnahmslos als strafbar galt: Politischer geht’s nimmer! Die Kampagne galt damals und gilt heute – zumindest in weiten Teilen eines sich aufgeklärt und irgendwie links-liberal fühlenden Bildungsbürger- und Medienmenschentums – als Meilenstein einer Kampagne für die gute, richtige Sache. Frage an die Kritiker der aktuellen "Bild"-Aktion: Hättet Ihr eine solche Kampagne auch stoppen wollen? Oder würdet Ihr sie – weil eben aus Eurer Sicht hier die Aussage stimmte – im Gegenteil heftig beklatschen?
rp Die "Bild"-Zeitung vom 27. Februar 2015
Der "Stern vom 6. Juni 1971