Der aktuelle Entwurf der E-Privacy-Verordnung bedroht die fragilen digitalen Geschäftsmodelle der Medien und Contentanbieter. Sie bedroht Arbeitsplätze von Webspezialisten, Vermarktern und Kreativen. Sie diskreditiert die gesamte Digital-Industrie. Und sie ist die größte Gefahr für die Werbeindustrie der letzten Jahre.
In Homers Odyssee wird der Held Odysseus von zwei Meer-Ungeheuern bedroht. In einer Meerenge wartet links Skylla, das menschenfressende Ungeheuer, rechts Charybdis, die Göttin, deren Strudel jedes Schiff sinken lässt. So wie Odysseus werden sich werbefinanzierte Website-Betreiber fühlen, wenn die E-Privacy-Verordnung ab Mitte Mai 2018 in der jetzigen Form Pflicht wird.
Noch wird hinter den Kulissen verhandelt und gefeilscht, um vielleicht doch noch einen Kompromiss zwischen der proklamierten Stärkung der Nutzerinteressen und den Interessen der Werbe-und Medien-Industrie zu erreichen.
Wenn nicht mehr nachgebessert wird, gilt ab Mai nächsten Jahres die im Oktober verabschiedete E-Privacy-Verordnung. Und im Gegensatz zu Odysseus werden werbefinanzierte Websites nicht mit zwei scheinbar aussichtslosen Situationen konfrontiert, sondern gleich mit vieren.
„Paywall um jeden Preis?“, „Kostenlose Content-Bereitstellung, auch ohne Werbeerlöse?“, „Verlagern der Inhalte auf Facebook und andere Plattformen mit Log-in-Prinzipien?“, „Ganz raus aus dem Netz?“
Man ahnt schon bei diesen Alternativen: Die Verordnung hat alle Zutaten, die Betreiber von großen wie kleinen werbefinanzierten journalistischen Plattformen in die größte Ratlosigkeit und Verzweiflung zu treiben. Die Entscheidung am 19. Oktober erschüttert einen ganzen Wirtschaftszweig in seinen Grundfesten. Medien- und Werbeindustrie werden de facto zur Disposition gestellt.
Nach eigenem Bekunden hatten die EU-Parlamentarier, die für den harten Privacy-Entwurf stimmten, die Nutzerinteressen im Blick. Doch die gut gemeinte Entscheidung offenbart de facto eine erschreckende Weltfremdheit in Sachen Digitalwirtschaft. Und als ob das nicht genug wäre, stärkt sie die Macht der großen (US-)Log-in-Plattformen Facebook, Google und Amazon, also genau die Konzerne, vor denen die EU-Politiker sonst bei jeder Gelegenheit inbrünstig warnen.
Man macht es sich aber zu einfach, das drohende Desaster allein auf die Unwissenheit der Politiker zu schieben. Dass die Verordnung so radikal ausfällt, hat sich die digitale Werbeindustrie ein Stück weit selbst zuzuschreiben. Jahrelang wurden nach dem urkapitalistischen Motto „Nach mir die Sintflut“ Menschen mit teilweise schrecklicher Werbung bombardiert. Nun schlägt, sozusagen, das Imperium der Werbefeinde zurück.
„Paywall um jeden Preis?“ oder „Kostenlose Content-Bereitstellung?“
Stellen Sie sich vor, Sie besuchen HORIZONT Online. Unser Angebot ist, wie das der meisten deutschen publizistischen Plattformen, werbefinanziert. Wir liefern Content, den Sie kostenlos lesen können, weil wir Sie auch mit bezahlter Digital-Werbung versorgen. Das ist eine Win-win-Situation: Sie werden informiert, HORIZONT Online kann mit den Werbeerlösen die kostenintensive Bereitstellung dieser Informationen finanzieren.
Dieses Modell wird mit der E-Privacy-Verordnung ausgehebelt.
Dann müssen Sie nämlich nicht nur zustimmen, dass wir Ihnen neben Journalismus auch Werbung zuspielen dürfen. Sie müssen auch zustimmen, welche Daten Dritte (Third Party) auf Publisher-Seite verarbeiten dürfen.
Hand aufs Herz: Ist es wirklich nutzerfreundlich, wenn der Browser ab Sommer 2018 default eine Nicht-Cookie-Einstellung hat, und Nutzer permanent Daten-Freigabe (Opt-in) erteilen dürfen (und müssen)? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Nutzer in diesem zeitraubenden Prozedere diese Freigaben erteilt? Um Reichweiten vergleichbar messen zu können, Leserinteressen zu identifizieren (für passgenauen Content und/oder Werbung), genügen vereinzelte Freigaben sowieso nicht. Die Daten sind nur dann brauchbar, wenn sie für viele Websites erstellt werden.
Damit wird ab Mitte Mai Schluß sein, mit allen Konsequenzen für Media-Agenturen, Vermarkter, Marktforscher und Webgestalter: Ihre Dienstleistungen werden nicht mehr so nachgefragt sein wie bislang. Wozu braucht eine Media-Agentur noch Targeting- und Programmatic-Ableger, wenn keine Werbung nach Zielgruppen geplant, gestaltet und ausgeliefert werden darf? Was machen Webgestalter, wenn Website-Betreiber ihr Investment minimieren?
Als ob das nicht genug wäre: Die Verordnung sieht vor, dass die Nutzung eines Angebots nicht an die Datenfreigabe des Nutzers gebunden werden darf. Heißt auf gut Deutsch: Websites müssen Nutzern ihre (journalistischen) Inhalte zur Verfügung stellen – auch wenn der Nutzer eine Datenfreigabe für die Auslieferung von Werbung beispielsweise verweigert hat (Kopplungsverbot).
Welche Möglichkeiten haben Medien-Websites? Sie könnten altruistisch ihre Inhalte ohne Werbe- oder Tracking-Finanzierung kostenlos und werbefrei zur Verfügung stellen. Aber das geht nur so lange gut, bis der Anbieter Konkurs anmeldet.
Oder sie installieren eine Paywall: Der Nutzer muss künftig dafür bezahlen, Inhalte zu lesen. Die Frage ist: Wie viele Mediensites lassen sich über den digitalen Vertrieb und Verkauf von Inhalten refinanzieren, wenn gleichzeitig der Werbeumsatz dramatisch einbricht? Und: Gilt das Kopplungsverbot auch hinter geschlossenen Türen? Dürfen Portale ihre angemeldeten Nutzer mit Werbung oder Content Marketing versorgen oder bedarf es auch bei einer Paywall der Zustimmung?
Die drohenden Probleme der Medien und Vermarkter sind auch ein Problem für die Werbungtreibenden. Wie wollen sie künftig digital Konsumenten ansprechen, wenn die Medien-Angebote flächendeckend Log-in-Schranken einführen und die Anzahl der Werbeflächen zwangsweise radikal reduziert wird?
„Ganz raus aus dem Netz?“ oder „Inhalte auf Facebook & Co?“
Die erste Frage stellt sich nicht ernsthaft. Wer im digitalen Zeitalter nicht im Netz präsent ist, den wird es irgendwann nicht mehr geben. Es ist eine der Absurditäten der ePrivacy-Verordnung, dass der Plan, das Internet „demokratischer“ und „nutzerfreundlicher“ zu machen, die Macht der großen Datenkonzerne und Walled Gardens stärkt. Während die offenen Websites nicht mehr in der Lage sein werden, Reichweiten zu messen oder Leseverhalten zu analysieren, warten die Log-in-Riesen mit eigenen Mess-Systemen und viefältigen Log-in-Daten der Nutzer (Mail-Adresse, Name, Geburtsdatum etc.) auf. Auf Third-Party-Cookies sind diese Plattformen nicht angewiesen. Unter Datenschutzgesichtspunkten sind sind sie deshalb erst einmal fein raus.
Inhalte liefern ihnen weiterhin die Medien aus –in der Hoffnung, am gigantischen Werbeumsatz partizipieren zu können. Doch auf diese Weise wird aus dem „freien Internet“ eine Ansammlung von Walled Gardens. Denn neben den etablierten US-Anbieter werden sich – notgedrungen – kleinere, lokale Wallet Gardens bilden. So wollen Verimi (unter anderem Axel Springer, Daimler, Deutsche Bank), aber auch ein Bündnis von Pro Sieben Sat 1, Zalando, RTL und United Internet dagegenhalten. Doch unter Juristen ist strittig, was diese Facebook-Wettbewerber angesichts von E-Privacy mit den gemeinsam gesammelten Daten überhaupt dürfen.
Was tun?
Der Teufel steckt auch bei E-Privacy im Detail. Derzeit kämpfen die Lobbyisten der Digital- und Wirtschaftsverbände hinter den Kulissen, um den harten Entwurf abzumildern. Dabei geht es im Zweifel um einzelne Wörter („strictly“), die aus dem gut gemeinten Vorhaben der Parlamentarier eine aussichtslose Falle für Website-Betreiber und Medien machen. Noch kann der EU-Ministerrat gegensteuern, wenn beispielsweise Deutschland seine „zögerliche Haltung“, so BVDW und VDZ aufgibt.
So wird E-Privacy zur ersten Nagelprobe für eine mögliche Jamaika-Regierung, wie weit sie wirklich willens und in der Lage ist, digitales Business in Deutschland zu fördern. Leider hat eigentlich nur die FDP die digitale Transformation im Wahlkampf zum Thema gemacht. Das könnte eventuell nicht reichen, um geschlossen in Brüssel gegen das drohende Desaster zu opponieren. Und ob die abgewählte, aber immer noch geschäftsführende Bundesregierung Zeit, Lust und Energie hat, für eine andere E-Privacy-Variante zu kämpfen, das Wissen die Götter.
A propos Götter. Odysseus jedenfalls beschließt auf seiner zehnjährigen Irrfahrt durchs Mittelmeer, die tödliche Enge zwischen Skylla und Charibdis zu nehmen, dabei aber weiten Abstand zur wasserstrudelnden Charybdis zu halten. Stattdessen rudert er am Rachen der gefräßigen Skylla vorbei. Odysseus entkommt. Sechs seiner Gefährten werden gefressen.