Volker Schütz
Digital-Journalismus 2017

Ruhe bewahren, Haltung zeigen

2017 wird sich zeigen, wie viel Qualität (noch) im Qualitätsjournalismus steckt. Möglicherweise erleben wir den schmutzigsten Bundestagswahlkampf der deutschen Geschichte – begünstigt und befeuert durch hilflose Politiker, Wutautoren, populistische Schnappatmer und eine Internet-Technologie, die den ganzen medialen Irr- und Unsinn, den wir schon 2016 erlebten, überhaupt erst möglich macht. Fünf Trends für den Digital-Journalismus in diesem Jahr.
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1.

Trump und seine Folgen: Vom Programmatic Advertising zum Programmatic Campaigning

Das große Tohuwabohu oder: Internet im Jahr 2017
Grafik: Fotolia
Das große Tohuwabohu oder: Internet im Jahr 2017
Programmatic Advertising – also das automatisierte Einbuchen, Ausliefern und Real-Time-Optimieren von  Werbung – elektrisiert seit drei Jahren eine zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik geratene Digital-Werbebranche.

2016 hat sich herausgestellt: Die Prinzipien von Programmatic Advertising lassen sich prima für politische Zwecke nutzen. Wer zu Programmatic Advertising Ja sagt, kann zu Programmatic Campaigning schwerlich Nein sagen.

Trumps Kampagne auf Facebook und Twitter hat gezeigt, was technologisch in sozialen Netzwerken heutzutage möglich ist. Wie Hate- und Fake-News nahezu unentwirrbar mit politischen Statements und individueller Ansprache kombiniert werden. Wie je nach psychologischen Befindlichkeit der adressierten Zielgruppen Mikrokampagnen lanciert werden können und dies möglichst in Echtzeit. 

Trump hat die politische Kommunikation revolutioniert, indem er den Grundgedanken und die Tools von Programmatic Advertising auf seine Wahl-PR übertragen hat. Aber seine Revolution macht die Welt der professionellen und kommerziellen Kommunikation nicht unbedingt besser. Im Gegenteil. 

Für die politische Kommunikation, aber auch den Journalismus hat Programmatic Campaigning derzeit kaum absehbare Konsequenzen. Journalismus hat seinen historischen Ursprung in der Aufklärung,  Werbung hat ihre Wurzeln in der kapitalistischen Massenproduktion. Im Internet-Vorreiter-Land USA beziehen auch oder gerade die jungen Eliten an den Universitäten ihre Informationen über Newsletter, Hinweise ihrer Freunde und Follower in sozialen Netzwerken, Push-Nachrichten oder die Headlines in Suchmaschinen. Diese Snippets, dieser Partikel-Journalismus ist im Netz genauso wichtig wie long story, die Analyse oder der Kommentar. Doch die technologische Entwicklung verwebt den Snippet-Journalismus nicht nur in Wahlkampfzeiten mehr und mehr mit Mitteilungen und Messages, bei denen entweder Einzelne die Massen mobilisieren oder Algorithmen vorgeben, was und wie und an wen Nachrichten, aber genauso gut Gerüchte und Verdächtigungen verteilt werden. 
Mit Robotjournalismus, wie er die vergangenen Jahre immer wieder diskutiert wurde, hat dies nichts zu tun. Hier geht es nicht um Wetterberichte oder Börsenkurse.

Programmatic Campaigning dient der Meinungsmache. Oder besser: Hier wird eine Meinung, Nachricht oder Message in – theoretisch – je nach Bedarf unzählige Nano-Messages zerstückelt:  Ganz so wie beim Programmatic Advertising eine Kampagne in Echtzeit an die Bedürfnisse der Adressaten angepasst werden kann.

Das muss per se nicht schlecht sein. Zu recht beschweren sich Beobachter alle vier Jahre regelmäßig über die nichtssagenden Wahlslogans und -kampagnen der politischen Parteien. Programmatic Campaigning ermöglicht eigentlich die zielgenaue Ansprache potenzieller Wählergruppen. Programmatic Campaigning kann viel genauer auf die subjektiven Bedürfnisse und Empfindungen der Menschen eingehen als eine Plakat- oder TV-Kampagne. 

Eigentlich. 

Doch es ist wie mit vielen Technologien, die die Menschheit hervorgebracht hat. In den „falschen Händen“  wird aus einer guten Idee ein böses Instrument. Im Netz erleben wir derzeit, wie wertvolle  Informationen von Lügen, interessante Diskussionen von schäbigen Hassgesängen verdrängt werden und wie die freie Meinungsäußerung, ein Kernstück der Netzdemokratie,  zu manipulativer Propaganda missbraucht wird.  

Wie will, wie kann man diesem Abrutschen ins publizistisch Perfide noch Herr werden? 

Wir können davon ausgehen, dass wir auch im Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr Programmatic Campaigning in der einen oder anderen Art erleben werden. Vielleicht nicht ganz so brutal, wie es die Beraterfirma Cambridge Analytica für Donald Trump und die Brexit-Kampagne angeblich perfektioniert hat. 

Wie kann Journalismus auf Programmatic Campaigning reagieren? Je lauter die Kakophonie, je absurder die News, je boshafter die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, desto mehr wird Reflexion und Vernunft gefordert. Journalismus wird dann zum Qualitätsjournalismus, wenn er es wieder schafft, Einordnungen zu geben und Erkenntnisse zu liefern, die deutlich mehr bieten als hämische Auslassungen über die lächerliche Frisur und die Stupidität der handelnden Personen. 

2.

Gegen Hate- und Fake-News helfen keine Gesetze  

 
2016 war das Jahr, in dem der Zorn auf das Netz („Ich hasse dieses Internet“ lautet ein Buchbestseller von Jarett Kobek), vor allen Dingen aber auch der Hass im Netz dramatisch zugelegt hat. 

Auf die Gefahr hin, sich unbeliebt zu machen: Facebook für den Hass verantwortlich zu machen, hilft gegen Hate- und Fake-News genauso wenig wie Gesetze. Facebook verdient sein Geld mit Werbung. Mark Zuckerberg wird ein vitales Interesse daran haben, Nutzern und Werbekunden ein möglichst „angenehmes“ Umfeld zu bieten. Und er weiß, dass er höllisch aufpassen muss, dass das soziale Netzwerk Facebook sich nicht zu einem asozialen Netzwerk entwickelt. 

Ähnliches gilt für andere Plattformen. Apple, Amazon, Facebook und Google sind erbitterte Konkurrenten. Doch in einem sind sie sich einig: Alle wollen die Welt mit ihren Produkten besser machen. Daran müssen sie sich messen lassen. Gleichzeitig muss klar sein: Es ist eine Illusion, von Facebook (und anderen) ein 100-prozentig sauberes Internet  zu fordern. 

Das Netz hat seine dunklen Seiten, so wie die „richtige Welt“ ihre dunklen Seiten hat, mit denen Otto Normalverbraucher möglichst wenig in Berührung kommen will. Und so wenig Gesetze Kriminalität ausschließen, können Gesetze Hate- und Fake-News verhindern. Man muss Hass und Gewalt bekämpfen. Aber wir brauchen keine Wahrheitspolizei. Sondern kritische Medien, die ihren Job tun: informieren, analysieren, Stellung beziehen.  

3.

Homeless Media statt Homepage – warum das starke Medienmarken nicht ängstigen muss

 
Ich hatte vor einiger Zeit die These aufgestellt, dass die klassische Homepage an Relevanz verliert; Newsletter, Snippets, Empfehlungen von Freunden und Meta-Apps wie Facebook oder Snapchat dagegen immens an Bedeutung gewinnen. 

Gleichzeitig hatte ich befürchtet, dass dieses Homeless Media die Medien vor große Problem stellen wird: Nehmen Menschen, die auf Facebook einen Instant Article von Spiegel Online lesen, noch wahr, dass der Absender der Spiegel und nicht etwa Facebook ist? Interessiert es einen Leser, der eine Snippet-News auf Google liest noch, wer der Absender der Geschichte ist?

Auf diese und andere Fragen hatte ich im April 2016 noch mit einem klaren Nein geantwortet. Mittlerweile bin ich etwas optimistischer – gerade weil der  Trend zum Homeless Media sich dramatisch fortsetzen wird. 


Die Anzahl der Bilder, Texte und Filme, die Menschen auf sozialen Netzwerken posten, wird 2017 weiter enorm zunehmen. Neue Plattformen, aber auch neue Devices werden sich etablieren. Sprache wird dank Amazon Echo und Google Home zur „Mensch-Maschine-Interaktion“. Und auch die sprachgesteuerten Assistenten brauchen Inhalte – wie will man sich sonst vom Mitbewerber absetzen können? 

Content bleibt also King und deshalb ist Homeless Media für Medien eine Chance, wenn sie geschickt agieren und einzigartige Inhalte bieten. Oder ihren Inhalt journalistisch so gut verpacken und vertreiben, dass die Gefahr, im Contentchaos unterzugehen, verringert wird. 

4.

Die Bubble-Frage

 
Wir sollten, wir müssen in 2017 sachlicher über Filterbubbles reden, als wir das im vergangenen Jahr gemacht haben. Im Grunde genommen kann kein Mensch mehr Herr über die Informationen werden, die minütlich auf ihn einprasseln.   

Man braucht Filter, wenn man in der Informationsflut nicht ertrinken will.

Personalisierung wird 2017 ein ganz großes Thema, das viele Bereiche des digitalen Lebens erfassen wird: in Werbung (Programmatic Advertising), bei Services (Chatbots), in der Politik (Programmatic Campaigning) – aber auch im Journalismus.

Ein 50-jähriger Marketingmanager hat andere Lesegewohnheiten als eine 25-jährige Programmiererin. Nicht jeder ist an den Wirtschaftsnachrichten eines Angebots interessiert, sondern eventuell an den Boulevard-Stories. Und. Und. Und. 

Wer es nicht weiß, hat es zumindest im Gespür: Die Idee „Eine Nachricht für alle“ ist Schnee von gestern.

Partiell wird diese notwendige Individualisierung von Medien schon umgesetzt. Twitter funktioniert nun mal anders als  Facebook, Instagram braucht andere Bilder als Snapchat.  Unterschiedliche Lese-Zielgruppen brauchen unterschiedliche Newsletter. Der HORIZONT-Kreationsflash hat andere Inhalte und andere Zielgruppen als der HORIZONT-Newsflash.

In fünf Jahren wird man solche „händisch“ vorgenommenen Unterscheidungen als  archaische Raster müde belächeln. Denn so wie die Werber ihr Programmatic Advertising, Politiker, Lobbyisten und PR-Profis ihr Programmatic Campaigning einsetzen, wird es auch Programmatic Journalism geben. 

Roboterjournalismus kann mehr sein als der durch KI erstellte Wetter- oder Börsenbericht.  Er kann helfen, Inhalte viel genauer – und damit auch viel bedürfnisorientierter – an die Frau und den Mann zu bringen. Progammatic Journalism ist nicht das Ende des kritischen Journalismus, sondern hat das Potenzial, neue Leser zu gewinnen, neue Erlösmodelle in Ganz zu setzen, eine Medienmarke zu stärken. Vorausgesetzt, Medien investieren noch stärker in Big Data. 

5.

Haltung, wir brauchen Haltung

Ruhe bewahren, Haltung  zeigen – darauf wird es für Journalisten im nächsten Jahr besonders ankommen. 2017 ist ein Wahlkampfjahr, und es ist zu befürchten, dass es besonders im Netz schmutzig werden wird. 

Das Kesseltreiben auf den Ex-S&F-Manager Gerald Hensel vor wenigen Wochen hat gezeigt, wie leicht es Wut- und Kampagnenjournalisten wie Henryk M. Broder fällt, populistische Schnappatmer zu mobilisieren.  Ob die „Achse des Guten“ und „Tichys Einsichten“ ausreichen, um neben klassischen Medien und unpolitischen Digital-Innovationen wie „Buzzfeed“ eine neue Mediengattung, nämlich die Populismus-Plattform zu etablieren, wie W&V-Kollege Frank Zimmer in einem klugen Kommentar vermutet, sei dahingestellt. 
Der Punkt ist ein anderer. Die Mischung aus Hatespeech, Fake-News, rechtskonservativen Einpeitschern und technologischen Innovationen überfordern derzeit nicht nur Politik und Gesetzgebung. Sie strapazieren auch den Qualitätsjournalismus ganz anders als in den Jahren zuvor. Es wird nicht genügen, mit dem Zeigefinger auf die „Wutbürger“ zu deuten und sich über die Tippfehler in Kommentaren im Netz lustig zu machen. Und man darf nicht selbst anfangen, bei jedem Shitstorm, in den man gerät, kurzatmig, beleidigt oder hysterisch zu reagieren. Und so wie man sich davor hüten sollte, Technologie per se zu verteufeln, ist Populismus per se nicht verurteilenswert: Die Grundidee vom Internet als Bürgerdemokratie basiert doch auf der Vorstellung, dass im Netz Menschen Gehör finden, die der  etablierten Politik skeptisch gegenüberstehen. Nur weil dies derzeit von den Falschen erfolgreicher umgesetzt wird, darf dies nicht bedeuten, sich vom Diskussionsmedium Internet zu verabschieden.

„Qualität kommt von quälen“, hat Fußball-Trainer Felix Magath mal gesagt. Der Mann liegt bei vielem daneben. Hier hat er recht. Wenn Journalisten wieder mehr Gehör finden wollen, müssen sie sich quälen. Und ihre Leser auch.

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