Ich kann mich noch gut an die Weltmeisterschaft 2014 erinnern. Und damit meine ich gar nicht die begeisternden Auftritte der deutschen Mannschaft wie etwa gegen Gastgeber Brasilien im Halbfinale. Ich rede von der Kritik, der sich ARD und ZDF ausgesetzt sahen. Es gab damals nicht wenige, die den Öffentlich-Rechtlichen zu große Nähe zu den Akteuren von DFB und Nationalmannschaft vorgeworfen haben. Von mangelnder Distanz war die Rede, teilweise wurde Opdenhövel, Müller-Hohenstein und Co. sogar vorgeworfen, "Ranschmeißjournalismus" zu betreiben.
Fakt ist: Scholl ist hart in der Sache und schießt damit gerne übers Ziel hinaus. So auch nach dem gewonnen Viertelfinalspiel der deutschen Mannschaft gegen Italien, als Scholl DFB-Taktikchef Urs Siegenthaler scharf kritisierte: Er habe Bundestrainer Joachim Löw geraten, die Taktik umzustellen und dem Gegner anzupassen. "Der Herr Siegenthaler möge bitte seinen Job machen, morgens liegen bleiben und die anderen zum Training gehen lassen. (…) Jogi Löw wacht nicht nachts auf und sagt: ‚Jetzt hab ich’s: Dreierkette, Dreierkette, Dreierkette‘", wetterte Scholl.
Mehmet Scholl kritisiert Urs Siegenthaler
Seither prasselte reichlich Kritik auf den ARD-Experten ein. Seine Einlassungen seien schlichtweg falsch, kommentierte Lukas Rilke auf Spiegel Online. Als "dreist" bezeichnete Taktikexperte Tobias Escher bei der "Rheinischen Post" Scholls Kommentar. Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff sah Scholls Kritik als Angriff auf den gesamten Trainerstab (übrigens in einem Interview auf dfb.de). Und Siegenthaler selbst verortete Scholl mal kurz im Mittelalter.
Sicher: Man kann sich über den Ton streiten, in dem Scholl seine Kritik vorgetragen hat. Dass er möglicherweise nicht hundertprozentig richtig lag: Geschenkt. TV-Experten sind dazu da, ihre Meinung zu äußern, auch wenn die womöglich abseitig ist. Das Problem ist doch vielmehr: Dass die Analyse eines TV-Experten derart hohe Wellen schlägt, zeugt auch davon, wie selten solch harten Worte in Richtung der Nationalmannschaft inzwischen geworden sind. Und das wirft leider kein gutes Licht auf diejenigen, die eigentlich für die kritischen Fragen zuständig sind.
Aus Zuschauersicht muss man daher sagen, dass Scholl mit seiner Art und seiner Meinung überaus erfrischend wirkt. Besonders vor dem Hintergrund, dass es auch bei der EM 2016 wieder einige merkwürdige Begegnungen zwischen Reportern und Nationalmannschafts-Vertretern gab. Negativer Höhepunkt in dieser Hinsicht war sicherlich ARD-Field-Reporter Jürgen Bergener, der nach dem Italien-Spiel Torwart Manuel Neuer mit den Worten empfing: "Danke auch von der gesamten ARD, dass Sie uns ein weiteres tolles Spiel beschert haben." Ernsthaft?
Es kann nicht darum gehen, Joachim Löw, Oliver Bierhoff und den Nationalspielern nun permanent verbale Granaten entgegenzuschleudern. Aber die Diskussion um die Rolle der TV-Experten (zu der übrigens auch die Frage nach deren Entlohnung gehört), führt uns womöglich wieder die Frage vor Augen, was der Zuschauer eigentlich von einer Fußball-Übertragung der Öffentlich-Rechtlichen erwarten darf. Und vor allem: Wer soll was sagen (dürfen)? Statements wie die von Mehmet Scholl gehören da sicherlich zum Gesamtbild dazu. ire
Warum Mehmet Scholl daneben gegriffen hat – und dennoch richtig liegt