Unilever-Mediachef Arne Kirchem

"60 Prozent Viewability? Tut mir leid, das ist zu wenig!"

Unilever-Manager Arne Kirchem
Nele Martensen
Unilever-Manager Arne Kirchem
Die Sichtbarkeit von Displaywerbung liegt in Deutschland bei knapp 60 Prozent - was im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht ist. Arne Kirchem, Mediachef von Unilever, geht die Selbstzufriedenheit aber gehörig gegen den Strich. Im Interview mit HORIZONT Online sagt er: "60 Prozent sind eindeutig zu wenig, damit können wir absolut nicht zufrieden sein! Wenn Sie Brand Managern erzählen, tut mir leid, aber 40 Prozent eurer Werbung im Netz werden gar nicht gesehen, fallen die doch aus allen Wolken."
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Arne Kirchem ist seit 2013 Mediachef von Unilever und seit Mai 2016 im Vorstand des Kundenverbands OWM. Im Interview mit HORIZONT Online nimmt er vor der OWM-Jahrestagung in dieser Woche in Berlin Stellung zu aktuellen Themen. Hier seine wichtigsten Punkte.


Erstens: "Ich bin sicher, dass das Thema Viewability im nächsten Jahr noch einen viel höheren Stellenwert bekommen wird. Wir wollen einfach wissen, ob wir das, was wir bezahlen, auch wirklich bekommen. Nur so sind wir in der Lage, die Effizienz von Digitalwerbung valide zu messen."

Zweitens: "Wir müssen uns darauf einstellen, über kurz oder lang kaum noch mit Cookies arbeiten zu können. Es läuft es darauf hinaus, vielleicht sechs oder sieben große Anbieter mit eigenen Log-In-Daten zu haben, mit denen wir zusammenarbeiten."

Drittens: "Ich bin der Meinung, dass das Thema Ad Fraud gerade etwas unterschätzt wird, zumindest hier in Deutschland, wo angeblich alles nicht so schlimm ist. Wenn ich mit Experten spreche, wiegen die bisweilen sehr bedenklich mit den Köpfen. Ich hielte es daher für fatal, wenn wir uns jetzt alle zurücklehnen in dem Gefühl, dass alles schon nicht so schlimm ist."

Viertens: "Wenn Google und Facebook das Thema Datensicherheit in Deutschland hinbekommen, bekommen sie es überall hin. In Deutschland wird gewissermaßen der Gold-Standard definiert."

Teilweise herrscht in der Branche auch noch ein bisschen Wildwest - aber ich bin überzeugt, dass Influencer Marketing noch sehr viel größer und wichtiger wird, als es heute bereits ist.
Arne Kirchem
Aber Kirchem hat auch Positives zu vermelden. Sein Urteil über Influencer Marketing ist Wasser auf die Mühlen all der Youtuber und Influencer draußen im Lande: "Influencer Marketing funktioniert erstaunlich gut, wir sehen hier zum Teil wirklich verblüffend gute Ergebnisse. Teilweise herrscht in der Branche auch noch ein bisschen Wildwest - aber ich bin überzeugt, dass Influencer Marketing noch sehr viel größer und wichtiger wird, als es heute bereits ist."

Das Interview im Wortlaut: 

"Digitalwerbung muss jetzt endlich Qualität liefern"

Herr Kirchem, wie ist es um den Zustand der Digitalwerbung bestellt? Wir haben das Experimentierstadium verlassen, Digitalwerbung muss jetzt endlich Qualität liefern. Die Unternehmen investieren inzwischen so viel Geld in diesen Kanal, dass wir einfach verlässliche KPIs brauchen. Wenn ich beispielsweise lese, Deutschland hätte kein Viewability-Problem, weil die Sichtbarkeit bei 60 Prozent liegt, sage ich: 60 Prozent sind eindeutig zu wenig, damit können wir absolut nicht zufrieden sein! Wenn Sie Brand Managern erzählen, tut mir leid, aber 40 Prozent eurer Werbung im Netz wird gar nicht gesehen, fallen die doch aus allen Wolken. Stellen Sie sich den Ärger vor, wenn unsere Shampoo-Flaschen nur zu 60 Prozent gefüllt wären. Oder wir unseren Handelspartnern sagen: Geht mal mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon aus, dass bei der nächsten Lieferung 40 Prozent der Kartons leer sind. Das geht einfach nicht. Ich bin sicher, dass das Thema Viewability im nächsten Jahr noch einen viel höheren Stellenwert bekommen wird. Wir wollen einfach wissen, ob wir das, was wir bezahlen, auch wirklich bekommen. Nur so sind wir in der Lage, die Effizienz von Digitalwerbung valide zu messen.

Geht es nur um Probleme der Mess- und Sichtbarkeit oder gibt es nicht auch eine steigende Skepsis gegenüber der Werbewirksamkeit von digitaler Werbung generell? Die Frage finde ich so  pauschal gestellt schwierig. Digital umschreibt ja einen weiten Bereich unterschiedlichster Möglichkeiten, es geht um Search, Targeting, Video Ads, Influencer Marketing und vieles mehr. Die Aufgabe besteht im Grunde darin, die unterschiedlichen Disziplinen in den Griff zu bekommen und aufeinander abzustimmen.

Als größter Effizienzhebel überhaupt gilt Programmatic Advertising. Die Hoffnung war, mit Programmatic innerhalb von Nano-Sekunden exakt die Kontakte einkaufen zu können, die man für seine Kampagne haben will. Inzwischen stellen wir alle fest: So einfach ist das nicht, das wirkliche Leben ist deutlich komplexer. Wir müssen verstehen, wie die Algorithmen funktionieren und was hinter den Kulissen passiert. Wenn Sie Programmatic komplett in die Hände einer Agentur geben, haben Sie die Schwierigkeit, nicht genau zu wissen, an welchen Stellschrauben überhaupt gedreht werden muss. Das Qualitäts-Zertifikat Programmatic Advertising, das der BVDW gerade entwickelt hat, halte ich in diesem Zusammenhang für einen sehr wichtigen Schritt in die richtige Richtung.

Es läuft es darauf hinaus, vielleicht sechs oder sieben große Anbieter mit eigenen Log-In-Daten zu haben, mit denen wir zusammenarbeiten.
Arne Kirchem
Sehen Sie den Trend bei großen Werbungtreibenden, Programmatic inhouse zu managen und eigene Trading Desks aufzubauen? Innerhalb der OWM gibt es dazu sehr unterschiedliche Meinungen, in einem Punkt herrscht aber große Einigkeit: Man braucht als Werbungtreibender auf jeden Fall eine starke eigene Expertise. Das Problem bei umfassenden Inhouse-Lösungen ist, in Technologien investieren zu müssen, die sich womöglich schnell als veraltet herausstellen. Außerdem müssen Sie die richtigen Leute dafür finden und sicherstellen, dass die nicht irgendwann im eigenen Saft schmoren. Es gibt bei diesem Thema viele Pros und Kontras. Am Ende wird es wohl auf Mischformen hinauslaufen.

Generell verlieren die Mediaagenturen also nicht an Bedeutung? Das hängt vor allem davon ab, wie gut die Mediaagenturen ihren Job machen. Klar ist, dass es einen großen Bedarf an kompetenten und neutralen Beratern gibt. Nehmen Sie allein die kommende E-Privacy-Verordnung. Wir müssen uns darauf einstellen, über kurz oder lang kaum noch mit Cookies arbeiten zu können. Es läuft es darauf hinaus, vielleicht sechs oder sieben große Anbieter mit eigenen Log-In-Daten zu haben, mit denen wir zusammenarbeiten. Bei denen gibt es dann unterschiedliche Audiences, die müssen Sie natürlich irgendwie übergreifend managen - und dazu brauchen Sie Spezialisten. Das können die etablierten Mediaagenturen sein, müssen es aber nicht.

Wie massiv werden sich die Werbe-Spendings in den nächsten Jahren weiter Richtung Digital verschieben? Digital wird weiter zulegen, aber ich denke, dass sich die Wachstumskurve abflacht. Aber es geht nicht einfach um Digital, sondern wir gehen mit unseren Budgets dahin, wo wir die Konsumenten am effizientesten mit unseren Botschaften erreichen können. Und dabei gibt es eben eine ganze Reihe von Kriterien. Über Viewability haben wir schon gesprochen, andere wichtige Themen sind Brand Safety und Ad Fraud. Ich bin übrigens der Meinung, dass das Thema Ad Fraud gerade etwas unterschätzt wird, zumindest hier in Deutschland, wo angeblich alles nicht so schlimm ist. Ich stimme der Auffassung durchaus zu, dass Ad Fraud aktuell kein besonders akutes Problem darstellt, aber wenn ich mit Experten spreche, wiegen die bisweilen sehr bedenklich mit den Köpfen. Ich hielte es daher für fatal, wenn wir uns jetzt alle zurücklehnen in dem Gefühl, dass alles schon nicht so schlimm ist.

Wenn Sie Brand Managern erzählen, tut mir leid, aber 40 Prozent eurer Werbung im Netz wird gar nicht gesehen, fallen die doch aus allen Wolken.
Arne Kirchem
Wie würden Sie Ihr aktuelles Verhältnis zu Facebook und Google beschreiben? Machen die Werbungtreibenden genug Druck auf die beiden, ihre Walled Gardens mehr zu öffnen und so für mehr Markttransparenz zu sorgen? Natürlich hätten wir gerne noch mehr Transparenz und fordern das auch ein, auf der anderen Seite habe ich auch Verständnis dafür, dass Unternehmen eigene Geschäftsmodelle entwickeln und die nicht allen völlig offenlegen wollen. Im Übrigen ist mein Eindruck, dass Google und Facebook sehr wohl gesprächsbereit sind, unsere Forderungen sehr ernst nehmen und sich ja auch bewegen. Das war nicht immer so, vor allem wenn es um Datenschutz geht. Früher hatte man in den USA den Eindruck, die Deutschen seien in diesem Punkt einfach ein bisschen paranoid. Heute herrscht eher die Vorstellung vor: Wir führen in Deutschland eine Debatte, die auch in anderen Ländern an Fahrt gewinnt. Wenn Google und Facebook das Thema Datensicherheit in Deutschland hinbekommen, bekommen sie es überall hin. In Deutschland wird gewissermaßen der Gold-Standard definiert.

Eine Folge der Digitalisierung ist ja, dass der Trend immer stärker Richtung Performance geht - zu Lasten klassischer Branding-Werbung. Performance Marketing gewinnt sicher seit Jahren an Bedeutung, auch weil sich im Digitalen Sales-Effekte eben besonders gut messen lassen. Aber als Markenartikler glauben wir nach wie vor an Branding. Investitionen in die Marke sind die einzige Chance, um Marken gegen neue Wettbewerber und Handelsmarken zu schützen. Daran hat sich nichts geändert.

Wenn Sie Programmatic komplett in die Hände einer Agentur geben, haben Sie die Schwierigkeit, nicht genau zu wissen, an welchen Stellschrauben überhaupt gedreht werden muss.
Arne Kirchem
Und das sehen die Controller im Unternehmen genauso? Natürlich wird das immer wieder auch kritisch hinterfragt, aber das ist auch völlig in Ordnung - wir müssen schon bereit sein, uns challengen zu lassen. Nur, klar ist auch: Wenn es keine Langfrist-Wirkung von Werbung gäbe, müssten Unternehmen wie Unilever, die seit Jahrzehnten riesige Summen in Markenbildung investieren, ja längst pleite sein. Und es gibt ja auch eine Reihe von hervorragenden Studien, die den Langrist-ROI von Werbung überzeugend belegen.

Sagen Sie uns zum Schluss noch etwas zu Influencer Marketing. Ist es mit dem Boom bald wieder vorbei oder geht es gerade erst richtig los? Influencer Marketing funktioniert erstaunlich gut - sowohl was Reichweite, Akzeptanz in der Zielgruppe als auch das Erreichen von konkreten Kommunikationszielen wie etwa der Steigerung der Awareness betrifft. Wir sehen hier zum Teil wirklich verblüffend gute Ergebnisse. Gleichzeitig müssen wir aber auch noch viel lernen. Gerade Brand Managern fällt es bisweilen schwer, Influencern die nötigen Freiheiten auch wirklich zuzugestehen. Wir müssen auch noch daran arbeiten, die richtige Balance aus Makro-Influencern mit hohen Reichweiten und Mikro-Influencern hinzubekommen. Teilweise herrscht da in der Branche noch ein bisschen Wildwest. Aber um Ihre Frage konkret zu beantworten: Ja, ich bin überzeugt, dass Influencer Marketing noch sehr viel größer und wichtiger wird, als es heute bereits ist.

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