Digitales Marketing

„China wird die Welt überraschen“

Bessie Lee
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Bessie Lee
Bei den Cannes Lions gehört China noch nicht zu den führenden kreativen Nationen. Dafür sind die chinesischen Werber den westlichen Kollegen bei einem Thema der Digitalisierung voraus: Sie leben schon in einer Kommunikationswelt, in der das Smartphone das Königsmedium ist. Das wirbelt die alte Agenturwelt gehörig durcheinander, sagt Bessie Lee, die bis zum 1. Mai als CEO von WPP China zu den wichtigsten Agenturmanagern im Reich der Mitte gehörte.
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Pessimisten könnten es als böses Omen sehen, wenn eine Agenturveteranin wie Bessie Lee nach 27 Jahren Karriere bei WPP ihren Spitzenposten räumt und stattdessen eine zweite Karriere als CEO des 2015 von ihr gegründeten Start-up-Inkubators Withinlink beginnt. Optimisten werden den Branchenwechsel lieber als Beleg dafür sehen, dass innerhalb der Agenturbranche Kompetenzen erarbeitet werden, die für den Digitalisierungsprozess der Gesamtwirtschaft relevant sind.


Fest steht allerdings, dass Lee beim Blick auf die Branche, die sie gerade verlassen hat, noch viele Baustellen auf dem Weg zu einem in der digitalen Welt relevanten Agenturmodell sieht. Die Kreativagenturen seien selbst in der Smartphone-Hochburg China immer noch zu sehr auf klassische Kampagnen fixiert, mit denen man in Cannes Löwen gewinnen könne, kritisiert sie.

"Das Storytelling der klassischen Werbung funktioniert plötzlich nicht mehr"

In China wird die Kommunikation wesentlich deutlicher als in Europa vom Smartphone geprägt. Was bedeutet es für die Massenwerbung, wenn Apps wie Weibo und Wechat den täglichen Medienkonsum dominieren? Es stellt die Werbeagenturen vor eine ernsthafte Herausforderung, denn dadurch funktioniert das Storytelling der klassischen Werbung plötzlich nicht mehr. Die Unternehmen stellen fest, dass sie in diesen Kanälen ihre Kunden finden und dauerhaft binden müssen, und damit müssen auch die Agenturen Ideen liefern, die mehr Engagement erzeugen als ein typischer TV-Spot.

Aber chinesische Kreative müssten sich der Bedeutung des Mobile Web schon allein aus ihrem eigenen Privatleben bewusst sein. Und trotzdem ist es eine Entwicklung, die die Kreativagenturen im ganz großen Stil verpasst haben. Denn sie waren viel zu sehr darauf konzentriert, große TV-Kampagnen zu kreieren, die bei den Cannes Lions eine Chance haben.

Wir müssen uns möglicherweise an den Gedanken gewöhnen, dass die Art, wie unsere Agenturen strukturiert sind, einfach nicht zur kommenden Kommunikationswelt passt. Die einzigen echten Erfolgserlebnisse im Sinne der Auftraggeber sehe ich bei den Agenturen, die eigens für einen Kunden aufgebaut wurden.
Bessie Lee
Ist das schon eine fundamentale Krise der klassischen Werbeagentur, oder erleben wir gerade nur einen natürlichen Wechsel der Agenturgenerationen? Die Digitalisierung und speziell das Mobile Web hat die klassischen Agenturen sicherlich weniger relevant werden lassen. Denn dadurch muss sich der Content deutlich verändern. Es genügt nicht mehr, dass er nur passiv konsumiert wird. Er muss auch selbst mit der Zielgruppe sprechen und weitere Interaktionen auslösen. Und dabei ist auch die Bedeutung der richtigen technischen Umsetzung gewachsen. Wenn die Usability nicht stimmt, nützt auch die kreativste Idee nichts mehr.

Genau solche Ideen versprechen doch digitale Agenturen wie RGA und Razorfish. Werden sie in der mobilen Medienära die Gewinner sein? In den 27 Jahren meiner beruflichen Laufbahn in der Agenturwelt war die große Idee immer das Maß aller Dinge in der Werbung. Daran hat sich auch durch die neuen Kanäle nichts geändert, nur sehen wir leider nicht mehr allzu viele große Ideen. Das zeigt mir, dass das neue Erfolgsmodell noch nicht gefunden ist. Nachdem sich in der Vergangenheit die Agenturlandschaft in immer mehr Spezialagenturen ausdifferenziert hat, leben wir jetzt in der Phase, in der die Konvergenz passieren wird. Offen ist nur: Welche Disziplin wird den Lead haben?

Wie könnte denn das neue Zukunftsmodell der Werbekommunikation aussehen? Als CEO von WPP China war es ja Ihr Job, genau auf diese Frage eine zukunftstaugliche Antwort zu liefern. Wir haben damals versucht, aus dem großen Pool bestehender Agenturen je nach Kunde und Kampagnenanforderungen die bestmöglichen Kompetenzen zusammenzubringen. Das Problem von agenturübergreifenden Projekten ist allerdings, dass es innerhalb einer Holding sehr schwierig ist, einzelne Agenturen an einen Tisch zu bekommen, ohne dass die Beteiligten nicht letztlich vor allem an ihre eigene Agenda denken. Denn diese Agenturen werden ja nicht an dem Erfolg der Kampagne gemessen, sondern daran, ob sie als Einzelunternehmen ihre wirtschaftlichen Ziele erfüllen.

Das klingt jetzt nicht sehr optimistisch. Wir müssen uns möglicherweise an den Gedanken gewöhnen, dass die Art, wie unsere Agenturen strukturiert sind, einfach nicht zur kommenden Kommunikationswelt passt. Die einzigen echten Erfolgserlebnisse im Sinne der Auftraggeber sehe ich bei den Agenturen, die eigens für einen Kunden aufgebaut wurden. Hier ist eine langfristig orientierte Kommunikationsarbeit mit umfassender Vernetzung aller Kanäle machbar.

Wie groß ist denn eigentlich in der chinesischen Kommunikationsbranche die Bedeutung der kreativen Exzellenz? Wird nicht jede gute Idee sofort von anderen kopiert? Zunächst einmal ist in der digitalen Kommunikation die Trennung zwischen Kreativität und Usability sehr unscharf. Nur wenn beides funktioniert, kann ein Kommunikationsauftritt überzeugen. Aber es ist schon richtig, dass es in China einen anderen Umgang mit kreativen Leistungen gibt. Gute Konzepte werden schnell von anderen kopiert, aber ihre Ursprungsidee wird auch sehr schnell weiterentwickelt. Deshalb ist es oft nicht sinnvoll, wenn westliche Firmen mit Copyright-Klagen gegen solche Kopien vorgehen. Denn wenn solche Fälle dann tatsächlich vor Gericht kommen, hat die Kopie schon keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem ursprünglichen Produkt, sondern ist zu etwas völlig anderem geworden. Diese Tradition der kontinuierlichen Verbesserung und Weiterentwicklung passt sehr gut zur Dynamik der digitalen Wirtschaft.

Digital Marketing Days

Künstliche Intelligenz ist auch ein Schwerpunkt-Thema bei den Digital Marketing Days, die HORIZONT am 29. und 30. Juni 2017 in Berlin veranstaltet. Bei dem Pflicht-Termin für Digital-Entscheider diskutieren führende Branchenexperten wie Tina Beuchler (Nestlé) und Sven Krüger (T-Systems) darüber, welche Bereiche im Marketing durch Künstliche Intelligenz verändert werden und wie sich  Chatbots, Sprachassistenten und Roboter im Detail auswirken. Jetzt hier anmelden!

Heißt das auch, dass China in anderen Bereichen der digitalen Wirtschaft zum Vorreiter werden kann? In China werden alle Trends neugierig ausprobiert. Somit haben wir hier einen sehr attraktiven Markt für Innovationen. Aber ich sehe speziell die künstliche Intelligenz als Thema, bei dem China die Welt überraschen wird. Denn KI-Programme werden umso besser, je mehr Nutzerdaten sie haben, um ihr Modell zu verfeinern. Und China hat die größte Nutzerbasis der Welt.

Mit dem Singles Day hat die chinesische Marketingbranche ja schon jetzt einen eigenen Akzent in der Weltwirtschaft gesetzt. Was ist das Besondere daran? Früher hat dieser Verkaufstag den Unternehmen einen echten Zusatzwert geliefert, aber das ist nicht mehr der Fall. Die Konsumenten verschieben mittlerweile schon einen Monat vorher Anschaffungen, weil sie auf die Rabatte des Singles Day spekulieren. Das Event hat sich zu einem der größten Preiskämpfe im Jahr entwickelt und generiert keine echten Zusatzumsätze mehr. Viele der Unternehmen machen in dieser Zeit sogar faktisch Verlust. Aber sie machen trotzdem mit, weil sie auf diese Weise in kürzester Zeit einen sehr großen Kundenstamm aufbauen können. Deshalb bezahlen sogar manche Unternehmen die Nutzer dafür, dass sie online gehen. cam

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