Den Deutschen geht es gut wie selten, sie sind aber auch so aggressiv und dauergenervt wie selten. Zumindest hat es den Anschein, weil der Pöbel- und Beleidiger-Ton, der im Netz schon lange gang und gäbe ist, immer stärker auch auf die reale Welt abstrahlt. Der Schock, dass man mit offenem Hass auf das Establishment und die klassischen Medien erfolgreich Wahlkampf machen und Präsident der USA werden kann, sitzt tief – auch und gerade im Silicon Valley. Was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn der öffentliche Diskurs sich zunehmend radikalisiert, beschäftigt heute alle: Politiker, Soziologen, Philosophen und vernünftige Bürger, die in Deutschland zum Glück nach wie vor in der Mehrheit sind. Wer sich aus der Debatte bisher weitgehend raushält, ist die Werbeindustrie. Und das ist ein Trauerspiel.
Mehr zum Thema
Julia Jäkel antwortet KP Schulz
"Der Glaube ans Silicon Valley scheint in der Werbebranche merkwürdig unbeschädigt"
Geht es im Media-Business nur um Werbewirkung - oder tragen Unternehmen auch eine gesellschaftspolitische Verantwortung? Nach einem Aufsatz von Klaus-Peter Schulz ist darüber ein hitziger Streit entbrannt. Jetzt meldet sich G+J-Chefin Julia Jäkel bei HORIZONT zu Wort.
In den vergangenen Wochen wurde viel und hitzig über den Aufsatz "Boykott ist keine Lösung" von Klaus-Peter Schulz diskutiert, dem Sprecher des Mediaagentur-Verbands OMG. In dieser Woche antwortet nun die Gruner + Jahr-Chefin Julia Jäkel in einem Interview mit HORIZONT. Einer ihrer zentralen Sätze lautet: "Ich wünsche mir, dass Marketingverantwortlichen bewusst ist, welche Kraft sie eigentlich haben und dass es in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse liegt, ihre Werbegelder verantwortungsvoll auszugeben."
Es liegen nun zwei sehr deutlich formulierte Sichtweisen auf dem Tisch. Jetzt ist es an den Werbungtreibenden und Agenturen, sich zu positionieren und für eine der beiden Seiten zu entscheiden.
Mehr zum Thema
OMG-Chef Klaus Peter Schulz
"Unser Job ist nicht, die Demokratie zu retten"
Mit seinem Aufsatz "Boykott ist keine Lösung" hat OMG-Chef Klaus-Peter Schulz eine Debatte über das Beziehungsgeflecht zwischen Werbekunden und Medien ausgelöst. HORIZONT sprach mit ihm über kontroverse Themen wie Facebook versus Verlage und TV versus Youtube.
Die Schulz-Position lautet: Es ist nicht die Aufgabe der Werbungtreibenden, politisch Einfluss zu nehmen. Wenn es auf Facebook und Co zu viel Hass, Propaganda und Fake News gibt, ist es Aufgabe der Politik und der Plattform-Betreiber, etwas dagegen zu unternehmen. Die Werbeindustrie beschränkt sich auf die Forderung nach Brand Safety, also darauf, mit ihren eigenen Anzeigen nicht in anstößigen Umfeldern zu erscheinen. Ansonsten gilt der Satz: "Von den Unternehmen zu verlangen, sie sollten die Demokratie retten, ist völlig überzogen."
Die Position von Julia Jäkel lautet: Die Unternehmen haben sehr wohl eine Verantwortung für die gesellschaftspolitischen Folgen ihrer Media-Entscheidungen. Werbegelder seien "eine wichtige Säule, auf der unsere Informationsarchitektur und damit die Zukunft unserer Gesellschaft ruht". Eine "radikalisierte und polarisierte Gesellschaft" laufe zudem dem ökonomischen Interesse von Unternehmen zuwider. Und schließlich: "Ein verengter Blick auf die unmittelbare kurzfristige Nutzenmaximierung passt nicht in eine Zeit, in der wir weit denken müssen."
Es gibt Argumente für beide Positionen. Man kann auch darüber diskutieren, wie problematisch oder eben nicht problematisch es ist, was auf Facebook und anderen Plattformen passiert. Aber einfach weiter so zu tun, als ginge Marketingverantwortlichen und Agentur-Managern das alles nichts an: Das sagt viel aus über eine Branche, die sich so gern progressiv und meinungsfreudig gibt.
Die Werbeindustrie muss endlich Farbe bekennen