Was sind wir doch alle korrekt. Tolerant. Inklusiv. Weltoffen. Moralisch einfach einwandfrei. Und weil wir so genau Bescheid wissen, was richtig ist und was falsch, erheben wir mit Nachdruck unsere Stimme, wenn der Spielführer der Fußballnationalmannschaft doch ohne die versprochene One-Love-Binde aufläuft. Wir klatschen euphorisch in die Hände, wenn ein Lebensmittelhändler daraufhin werbewirksam seine DFB-Kooperation beendet. Wir jubeln über freche Werbung eines Onlinehändlers, der Fußball als störendes Element inszeniert und loben eine Matratzenmarke, weil sie den gebuchten Werbeplatz nicht mit dem gewohnten „Nä nä nä“, sondern mit einer Botschaft für Menschenrechte füllt.
Wir lieben das. Weil wir wissen, was Haltung ist.
Klar: Darüber, dass der Lebensmittelhändler seinen Vertrag mit dem DFB eigentlich schon im Oktober gekündigt hat und in den verbleibenden Wochen für das längst ausgegebene Werbegeld auch keine neuen Kunden gewonnen hätte, sehen wir mal geflissentlich hinweg. Dass er im Gegenteil das Momentum schamlos ausnutzt und so noch einmal richtig PR-Reichweite reinholt, nennen wir gelungen. Dass die ach so freche Werbung von Galaxus erstens voller Klischees und zweitens einfach nur Produktwerbung ist, dass man Bett1.de nie zuvor je über Diversität oder Rassismus reden gehört hat – ist jetzt auch egal. Denn wir wollen, ja wir fordern, dass Marken Haltung zeigen.
Wollen wir das wirklich? Oder wollen wir uns nur einfach ein bisschen besser fühlen? Weil wir zwölf Jahre lang, nämlich seit der Vergabe der Fußball-WM an Katar, nicht dagegen protestiert haben. Weil wir zwölf Jahre lang weiter Coca-Cola getrunken, Adidas-Klamotten gekauft und bei McDonald’s gegessen haben - Fifa-Sponsoren hin oder her. Weil wir eigentlich erst vor ein paar Wochen wieder daran erinnert wurden, dass in Katar möglicherweise Menschen schlecht behandelt werden.
Was bei uns ja nicht passiert.
Oder doch? Laut Bundesinnenministerium werden in Deutschland statistisch gesehen täglich zwei queerfeindliche Übergriffe gemeldet. Eine Anfrage der Linksfraktion an dieselbe Behörde ergab, dass hierzulande im Durchschnitt zwei Asylbewerber pro Tag angegriffen werden. Im ersten Halbjahr 2022 waren das 424 erfasste Straftaten. Und dabei muss man bei der Frage nach Toleranz und Diversität in unserer Gesellschaft noch nicht einmal auf Kriminalstatistiken schauen. Sehen Sie sich mal unter ihren Kollegen um: Ab einer Mitarbeiterzahl von 20 sind Unternehmen in Deutschland gesetzlich dazu verpflichtet, 5 Prozent Arbeitnehmer:innen mit einer Schwerbehinderung einzustellen – und jetzt überschlagen Sie, wieviel Geld Ihr Arbeitgeber als sogenannte Ausgleichsabgabe bezahlt.
Erfüllen Marken mit ihrer angeblichen Haltung also nicht einfach das, was sie denken, was wir hören wollen?
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Sich anständig zu benehmen, Haltung zu haben und sie zu leben, ist die Basis unserer Gesellschaft. Das ist kein add-on, sondern selbstverständlich. Und es gilt für Bürger:innen ebenso wie für Unternehmen. Aber Unternehmen wollen in erster Linie eines: verkaufen. Um das zu fördern, setzen sie Werbung ein und machen Versprechen. Marken, die jetzt so tun, als sei nicht der Absatz, sondern ein gesellschaftlicher Standpunkt ihr oberster Existenzzweck, sind, pardon, verlogen. Ebenso verlogen wie all jene, die sich gerade lieber still verhalten und darauf setzen, dass auch diese WM in wenigen Wochen vorüber ist.
Doch als Konsument:in mit dem Finger auf die einen wie die anderen zu zeigen und Haltung zu fordern, über die man weder bei einer WM in Südafrika noch einer in Russland noch bei Olympischen Spielen in Peking gesprochen hat – und deren sportliche Wettkämpfe man nicht mit Boykottaufforderungen begleitete – ist mindestens so heuchlerisch.
son
großartig
Ich liebe diesen Bericht!!! Top
Sehr schön - die Haltungs- und purpose-Kriege sind meist nur peinlich. Man lebt als Anständiger einfach und selbstverständlich anständig. Das vor sich her zu tragen und andere ständig zu mahnen ist völlig daneben. Das gilt für jeden von uns - Hiweise wenn mit dem Mut zum persönlichen Hinweis direkt an den einzelnen Menschen - so sollte es sein.
Danke für die Einordnung.