Wer hat noch nicht, wer will noch mal? Es gibt inzwischen Legionen an Definitionen, was Content Marketing nun eigentlich ist, und ständig werden es mehr. HORIZONT-Chefreporter Jürgen Scharrer wagt einen Erklärungsversuch - und erklärt die vier Irrtümer der Disziplin.
Für Agenturen, die nur Kundenzeitschriften können, sind Kundenzeitschriften das Herz des Content Marketings, für Werbeagenturen ist jeder Spot, der länger als 30 Sekunden dauert und irgendwie eine (am liebsten: "anrührende") Geschichte erzählt, das Nonplusultra der neuen Disziplin. Besonders "absurd und bestenfalls amüsant" sei die Herangehensweise der Mediaagenturen, spottet Stefan Postler vom CM-Marktführer Territory. Bei denen drehe sich alles um Distribution, "das bisschen Content und Kreation könne man ja ganz einfach dazukaufen". Mit einer solchen Haltung werde man "niemals erfolgreich sein". Und jetzt also auch noch ein Erklärungsversuch von HORIZONT Online? Nein, lieber nicht. Obwohl - vielleicht doch ein bisschen. Oder, weil das einfacher ist: erst mal ein paar Bemerkungen zu den großen Irrtümern des Content Marketings.
Irrtum 1: Unternehmen müssen Medien werden
Es ist ja schon ein bisschen absurd: Wir leben in einer Welt der totalen Reizüberflutung, wir werden zugeballert mit Informationen, Werbung, individualisierten „Botschaften“ (Targeting und Programmatic), die Anzahl der Fernsehsender explodiert, die der Online-Spiele und Websites erst recht - und was tun die Unternehmen? Sie bauen im großen Stil eigene Redaktionen auf und/oder engagieren Agenturen, deren Job darin besteht, rund um die Uhr irgendwelche Inhalte zu produzieren. Ohne entsprechende Paid-Unterstützung landet ein Großteil davon irgendwo im Nirwana.
Wer kam eigentlich auf die abenteuerliche Idee, jeder profane Konsumgüterhersteller müsse plötzlich zu einem Medienunternehmen werden? Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass Coca-Cola besser Geschichten erzählen kann als, sagen wir, RTL oder der „Stern“? Glaubt irgendjemand, dass die Leute wirklich finden, das, was Netflix, „Spiegel“ und „Capital“ zu bieten haben, sei irgendwie zu wenig, weshalb man doch mal ganz dringend schauen wolle, welche Soaps, teuer fotografierten Reisegeschichten oder sonstigen „unterhaltsamen und informativen Content“ Vodafone, EnBW oder Maggi so zu bieten haben?
Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass Coca-Cola besser Geschichten erzählen kann als, sagen wir, RTL oder der 'Stern'?
Jürgen Scharrer
Kann es sein, dass die Marketingbranche mal wieder völlig überdreht? Wie zuvor schon beim Retargeting, das letztlich vor allem dazu führte, dass die Leute sich übel gestalkt und ausspioniert fühlen? Wie bei Displaywerbung, die oft dermaßen nervt, dass die Menschen sich mit der Installation von Adblockern zu helfen versuchen? Wie bei Influencer Marketing, das aktuell durch die Decke geht, nur um absehbar gegen die Wand zu donnern? Kurz und gut: Droht die ganze Content-Marketing-Blase zu platzen, noch ehe sie in das Zentrum des Marketings vorgestoßen ist?
Kein Mensch braucht eine Soap der Deutschen Telekom (
"Familie Heins") und ein Hasen-Rasen-Ding (Media-Markt) im Jahr ist mehr als genug.
Irrtum 2: Content Marketing muss dialogisch sein
Wahrscheinlich glauben das ganz viele Marketiers und Agenturmanager wirklich: Die Leute sind begierig darauf, Dialoge „auf Augenhöhe“ mit Unternehmen zu führen. In Wahrheit sprechen Menschen, wenn ihnen langweilig ist, wenn sie sich einsam fühlen, sich inspirieren lassen wollen oder Bestätigung suchen mit: anderen Menschen. Auch die Vorstellung, die Leute wollten alles über eine Marke wissen, sich damit auseinandersetzen (statt nur zu konsumieren), geht ziemlich an der Realität vorbei.
Erfunden (oder zumindest populär gemacht) hat diese Geschichte mit den „Dialogen auf Augenhöhe“ Facebook. Die schöne Pointe dabei ist: Während viele Marketiers diese Mär vom partizipativen Kunden (der unbedingt auch noch bei der Produktentwicklung mitmischen will, Stichwort Co-Creation) noch immer glauben, haben die schlauen Leute von Facebook sich längst davon verabschiedet. Die Fakten sind ja auch zu eindeutig: Die Anzahl der Fans und Zahl der Kommentare dieser Fans stehen in einem krassen Missverhältnis, kaum ein „Fan“ besucht regelmäßig die Facebook-Seiten von Unternehmen, um mal ein bisschen mit der Marke zu quatschen (Ausnahmen bestätigen die Regel, klar). Und deshalb argumentiert Facebook in der Vermarktung ja längst nicht mehr mit „Fans“, sondern mit Reichweite und Targeting - also klassischen Media-KPIs.
Die gute Nachricht ist: Dialog ist keine Voraussetzung für Werbewirkung! Es geht auch ohne! TV- und Printwerbung und Werbung überhaupt haben jahrzehntelang ohne „Dialoge auf Augenhöhe“ funktioniert und tun es noch immer.
Irrtum 3: Es geht vor allem um Haltung
Wer nichts mit Marketing zu tun hat, sich aber aus irgendeinem Grund mal auf einer Marketing-Veranstaltung verirrt oder ein bisschen in einem Marketing-Fachbuch liest, ist schnell verblüfft, was für ein unglaubliches Brimborium um die „Bedeutung der Marke“ veranstaltet wird. Und zwar nicht - was ja noch total sinnvoll und richtig ist - im Sinne von: Bekanntheit der Marke, Sympathiewerte der Marke, monetärer Wert der Marke, Image der Marke et cetera. Sondern im Sinne von Orientierung, Leuchtturm, Lebenshilfe. Die Geschichte geht ungefähr so: Das Leben ist so furchtbar schnell und unübersichtlich geworden, und zwar so schnell und unübersichtlich, dass die Menschen heillos überfordert sind. Politiker können den Menschen keine Orientierung mehr geben, die Kirchen nicht und auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Klassen nicht mehr („Drum reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront / weil du auch ein Arbeiter bist“). Aber dafür gibt es ja noch die Marken, die immer wichtiger werden und den armen Menschen da draußen Orientierung geben. Das ist natürlich absurd - Marken sind eher nicht in der Lage, das angeblich oder tatsächlich schwindende Vertrauen der Bevölkerung in die politische Elite irgendwie zu kompensieren.
Auch für Unternehmen gilt natürlich: Du sollst kein Schwein sein auf dieser Welt. Und da Werbung/Kommunikation Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, ist es natürlich zu begrüßen und einzufordern, dass Unternehmen ein liberales Menschenbild verbreiten und sich ethisch korrekt verhalten. Aber das ist es dann auch schon.
Jürgen Scharrer
In vielen Debatten um Content Marketing geht es aber immer wieder genau darum: um Haltung. Das ist auch nicht völlig falsch, und zwar auf einer sehr fundamentalen Ebene. Auch für Unternehmen gilt natürlich: Du sollst kein Schwein sein auf dieser Welt. Und da Werbung/Kommunikation Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, ist es natürlich zu begrüßen und einzufordern, dass Unternehmen ein liberales Menschenbild verbreiten und sich ethisch korrekt verhalten. Aber das ist es dann auch schon. Im Marketing und also auch im Content Marketing geht es darum, effizient im Sinne des Unternehmens zu kommunizieren - und nicht darum, die Probleme der Welt zu lösen. Auch wenn Unternehmen wie Facebook das ständig von sich behaupten - und dafür immer häufiger den Spott ernten, den sie für ihr Weltverbesserungs-Gedöns auch redlich verdienen.
Irrtum 4: Influencer Marketing ist das nächste große Ding
Und wo bleibt das Positive? Hier: Influencer Marketing ist eine sinnvolle Sache. Die Menschen lassen sich vor allem beeinflussen von anderen Menschen, von Menschen, denen sie vertrauen, die sie bewundern, denen sie nacheifern oder an deren Lebensstil sie durch den Kauf bestimmter Produkte irgendwie teilhaben wollen. Word of Mouth war schon immer die effizienteste Form von Werbung überhaupt. Nur lässt sich Word of Mouth eben nur schwer beeinflussen. Beziehungsweise: Das eben doch zu können, war immer das große Argument von Werbe- und PR-Agenturen, die die Tricks kennen, in die Köpfe der Menschen zu kommen und dort irgendetwas auszulösen, was der Marke hilft.
Hype-Thema
4 Insights, die Sie über Influencer Marketing wissen müssen
Erfahrung im Influencer Marketing können die wenigsten Marketer vorweisen. Falko Kremp hat diesen etwas voraus. Als Mitgründer der Influencer-Buchungsplattform Inselberg.com sitzt er an der Quelle. ...
Warum ist die Euphorie um Influencer Marketing dennoch arg übertrieben? Der wichtigste Grund ist, dass der Kern der Geschichte zunehmend faul ist. Influencer sind angeblich deshalb so toll, weil sie so authentisch sind, so echt, so glaubwürdig - und also so völlig anders als klassische Werbung, die uns ja doch immer nur mit irgendwelchen Fake-Geschichten manipulieren will. Man kauft sich also Influencer ein, weil sie glaubwürdig sind und sich nicht kaufen lassen. Der Widerspruch liegt auf der Hand. All diese Sprüche, man werbe nur für Produkte, die man auch wirklich mag/benutzt/toll findet - irgendjemand da draußen, der das glaubt? Für viele ist Influencer inzwischen ein Beruf, bei dem es vor allem - logisch - um wirtschaftlichen Erfolg geht. In einem überaus lesenswerten
Gastbeitrag für HORIZONT Online wies Falko Kremp von
inselberg.com jüngst eindrucksvoll darauf hin, wie massiv inzwischen Kennziffern wie Anzahl der Follower, Likes, Comments oder Views künstlich nach oben getrieben werden. Da läuft gerade etwas schwer aus dem Ruder.
Ist Content Marketing also zu einem guten Teil nur ein Hype? Das nun auch wieder nicht, sondern sogar: im Gegenteil. Content Marketing ist wichtig und wird noch wichtiger, daran kann es kaum einen ernsthaften Zweifel geben.
Influencer Marketing droht zu einem Tummelplatz von Fakern zu werden.
Jürgen Scharrer
Es gilt dieser logische Dreischritt:
Erstens: Klassische Werbekonzepte (Banner Ads, Werbespots) funktionieren im Netz teilweise dramatisch schlechter als in TV, Print und Out of Home (zumindest wenn es um Branding geht).
Zweitens: Das Internet spielt bei Kaufentscheidungen eine immer größere Rolle (die berühmte Customer Journey).
Daraus folgt, drittens: Die Unternehmen müssen immer stärker im Netz präsent sein - und zwar mit neuen (Content-) Formaten.
Das Problem mit Content Marketing liegt also vor allem darin, dass man sich in den Diskussionen teilweise in absurde Großmanns-Theorien verläuft. Also: Nein, Unternehmen müssen keine Medien werden (die gibt es nämlich schon); Dinge wie „Dialoge auf Augenhöhe“ und Co-Creation werden grotesk überschätzt; Influencer Marketing ist eine tolle Sache, um 15-jährige Mädchen zu beeinflussen, aber nicht das nächste große Ding im Marketing.
Was bleibt also übrig? Drei Dinge braucht das Content Marketing:
Regel 1: Wenn jemand sucht, musst du da sein
Es geht nicht um endloses Gebabbel mit Konsumenten und auch nicht um Entertainment, sondern es geht darum, als Waschmaschinenhersteller da zu sein, wenn jemand eine Waschmaschine sucht (oder eine Reise, einen Spazierstock, einen Eierkocher). Das ist das große Glück von Google - es ist kein Zufall, dass SEO eine so zentrale Rolle im Digitalmarketing spielt.
Neben SEO müssen die Unternehmen aber auch in die eigene Website investieren - wenn ich bei meiner Turnschuh-Suche bei Adidas lande, sollte Adidas tunlichst die richtigen Informationen liefern und kundenfreundliche Services bieten.
Und natürlich sollte man präsent sein, wenn die Leute auf einer E-Commerce-Plattform etwas bestellen. Das ist das große Glück von Amazon, das sich aufschwingt, nach Google und Facebook zur dritten großen Werbe-Plattform für Unternehmen zu werden.
Regel 2: Wenn dich keiner sucht, musst du trotzdem da sein
Nirgendwo ist Content Marketing so nah an seiner Schwester klassische Werbung wie bei Native Advertising und Influencer Marketing. Natürlich macht es Sinn, im richtigen Umfeld für Versicherungen zu werben - nur eben nicht mit Display Ads, sondern mit Native Advertising, mit sinnvollen, informativen Texten. Insofern ist Native tatsächlich eines der zentralen Themen im Content Marketing.
Regel 3: Wenn dich jemand anschaut, musst du schön sein
Was bisweilen ein bisschen aus dem Blickfeld zu geraten droht: Content Marketing ist mehr als digitales Performance Marketing - nämlich nach wie vor auch klassisches Corporate Publishing. Neben den schnellen „Content-Pieces“, die im Digitalen gefragt sind, braucht es auch die großen Allgemein-Geschichten, es braucht gute Kundenzeitschriften, Geschäftsberichte, Mitarbeiterzeitungen - und die nach wie vor gerne in Print.
Eigentlich gibt es noch einen vierten Punkt - auch wenn der so abgeschmackt klingt wie die ewigen Klassiker „Der Kunde steht im Mittelpunkt“, „Der Mittelstand muss entlastet werden“ oder „Mitarbeiter sind unser wichtigstes Kapital“. Nämlich: Die Zeit ist reif für eine Integration von klassischer Werbung und Content Marketing. Im Zentrum steht eine - da ist dieses Wort, das jeder benutzt: - integrierte Content-Strategie, und die Frage ist dann, auf welchen Kanälen man mit welchen Formaten den größten Effekt erzielt. Wie viel Paid-Unterstützung braucht Owned, wie ist das richtige Verhältnis zwischen klassischer Werbung und Content Marketing, wie muss die Kommunikation auf Facebook aussehen? Es gibt dutzende solcher Fragen - die aber alle sinnvoller sind, als irgendwelche Wolkenkuckucksheime zu bauen und darüber zu schwadronieren, dass Unternehmen die Hoheit über ihre Marken abgeben müssen oder sich das Verhältnis zwischen Unternehmen und Konsumenten gerade grundsätzlich verändert. Tut es nämlich nicht.