Volker Schütz
Dumm gelaufen, liebe Bahn

Wenn die Realität die Werbung zum Erliegen bringt

Pech für die Bahn: Die große Imageoffensive droht, von der Realität überrollt zu werden. Genügt es, die "Diese Zeit gehört Dir"-Kampagne nur während des Streiks auszusetzen? Die Bahn glaubt: Ja!
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Werbung soll möglichst informativ und/oder möglichst unterhaltsam Produkte und Images verkaufen. Sie darf übertreiben. Aber sie darf den Kunden nicht mehr versprechen, als das Produkt einlösen kann. Weil die Menschen – die jeweiligen „Zielgruppen“ - sonst im schlimmsten Falle das Gefühl haben, sie werden belogen. Und wer einmal lügt, dem glaubt man bekanntlich nicht.



Der Schreiber dieser Zeilen ist passionierter Bahnfahrer. Ich hasse es, im Auto von Frankfurt nach Köln auf einen Termin zu fahren. Ein Flug von Frankfurt nach Hamburg ist nicht entspannend, sondern nervt, nicht nur wegen der notwendigen Sicherheitsvorkehrungen,  sondern auch wegen der engen Sitze. Wer einmal HORIZONT in einem Flugzeug gelesen hat, weiß die Bein- und Armfreiheit im Zug zu schätzen. In der Bahn kann man arbeiten, lesen, dösen, essen, Musik hören und vieles mehr.

„Bahnfahren kann durchaus auch als Investment ins eigene Wohlbefinden verstanden werden.“ So beschreibt Gabriele Handel-Jung, Leiterin Marketingkommunikation und Media der Deutschen Bahn,  in HORIZONT 13/2015 den Grund- und Hintergedanken der zusammen mit Ogilvy entwickelten Kommunikationsoffensive. Mit der will die Bahn seit Anfang April den Menschen nahebringen, dass sie etwas leistet, was die Konkurrenten Auto, Flugzeug und Fernbus nicht leisten können: „Qualitätszeit“ zu liefern. Das ist klug gedacht, funktioniert derzeit aber leider nicht.

„Diese Zeit gehört Dir“ lautet der Slogan der Kommunikationsoffensive in Paid, Earned, Shared und Owned Media (PESO-Modell).  Und nun? Nun erleben wir den längsten Bahnstreik der neueren deutschen Geschichte. Und die groß gestartete Kommunikationsoffensive droht zu einem der größten kommunikativen Rohrkrepierer der Bahn-Historie zu werden.

Schade.

„Endlich Zeit, die Hände überall zu haben, nur nicht am Steuer.“ Richtig – dank Bahnstreik steht man notgedrungen mit seinem Auto im Stau. Und weil sich nix bewegt, braucht man die Hände auch  am Steuer zu haben.

Gute Kampagne, ärgerliche Wirklichkeit, Beispiel 1
Bahn
Gute Kampagne, ärgerliche Wirklichkeit, Beispiel 1


„Endlich Zeit, für „Ah!“ und „Oh!“ statt „Wann sind wir’n da?“ Die Frage, wann man da ist, braucht man sich derzeit sowieso nicht zu stellen. Und „Ah!“ und „Oh!“ stellen sich ein, wenn man am S-Bahnhof die Morgennachrichten von „Handelsblatt“, „Süddeutscher“ und HORIZONT liest.
Gute Kampagne, trübsinnige Wirklichkeit, Teil 2
Bahn
Gute Kampagne, trübsinnige Wirklichkeit, Teil 2


Und so weiter und so fort könnte man jedes Bahn-Printmotiv gegen den Strich und gegen die Bahn bürsten.

Im HORIZONT-Expertencheck bekommt die Bahn-Kampagne fast durchweg gute Noten: ein mutiger, formal wie inhaltlich gelungener Aufritt – so der Grundtenor der Beobachter. Vor allem die strategische Ausrichtung der Kampagne wurde gelobt.


Jetzt sieht man: Was nützt die klügste Strategie, wenn sie derart von der Wirklichkeit ausgehebelt wird?

Werbung sollte den Menschen nicht zu viel versprechen. Das wollten Bahn und Ogilvy bestimmt auch nicht. Es wirkt derzeit halt leider aber so. Auf Bahn.de/DeineZeit fordert die Bahn auf: „Zeigen Sie uns, wie Sie Ihre Zeit verbringen.“ Ich könnte jede Menge Fotos fluchender Autofahrer, quengelnder Kinder, entnervter Bahnhofsbesucher beisteuern.

Während der Streiktage wird die Kampagne, so ein Bahn-Sprecher, in den Medien gestoppt, in den dies kurzfristig möglich ist. Der Claim der Bahn heißt „Die Bahn macht mobil“. Zyniker werden jetzt sagen: Nie war der Claim wahrhaftiger als in dieser Streikwoche, weil man aufs Fahrrad, ins Auto oder zum Laufen gezwungen wurde.




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