Werbeverbandschefin der Ukraine

"Der ukrainische Werbemarkt ist alles andere als tot"

Anastasiya Baydachenko ist seit 2019 CEO des Werbeverbands IAB Ukraine
IAB Ukraine
Anastasiya Baydachenko ist seit 2019 CEO des Werbeverbands IAB Ukraine
Anastasiya Baydachenko ist seit 2019 CEO des Werbeverbands IAB Ukraine. Die gelernte Mediaplanerin, 41, hat in mehreren großen Networkagenturen gearbeitet, darunter Dentsu und IPG. Im Interview mit HORIZONT erzählt sie, wie es ist, in Kiew mit Raketenangriffen, Bomben und Blackouts zu leben und zugleich in der Kommunikationsbranche zu arbeiten. Ein täglicher Kampf, der ihr manchmal wie ein Video-Game vorkommt, in dem jede weitere Stufe schwieriger zu erreichen ist.
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Sie haben sich wie viele andere entschieden, in Kiew zu bleiben. Wie gehen Sie persönlich mit den Belastungen durch den Krieg um? Es ist ein Wechselbad der Gefühle. Im vergangenen Februar, kurz nach dem Ausbruch des Krieges, habe ich mich merkwürdigerweise sehr sicher gefühlt. Damals gingen wir von einer kurzen militärischen Auseinandersetzung aus. Das änderte sich mit der Zeit. Ich sah die militärischen Auswirkungen und die gewaltsamen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung und bekam Angst. Inzwischen leben wir mit der ständigen Gefahr. Auf unseren Handys sehen wir fast täglich die Warnungen vor Fliegerangriffen und gehen dann zügig in einen Luftschutzraum. Apps zeigen uns an, wo Angriffe erwartet werden. Manchmal bleiben uns nur vier Minuten, dann müssen wir uns beeilen, manchmal 15 Minuten oder eine Stunde. Dann beenden wir sogar noch in Ruhe einen Videocall.


Kann man sich an einen Krieg gewöhnen? In gewisser Weise, ja. Wir Menschen können meiner Meinung nach nicht permanent im Ausnahmezustand leben. Wir gewöhnen uns an alles, auch an einen Krieg im eigenen Land. Aber es kommt mir manchmal vor, als befinden wir uns in einer Art Video-Game und mit der Zeit wird jede weitere Stufe schwieriger zu erreichen.

Sie leben und arbeiten in Kiew. Was prägt den Arbeitsalltag im Krieg? Die schlimmsten Monate waren November und Dezember 2022. In dieser Phase griff Russlands Armee mit massiven Raketenangriffen die Strominfrastruktur der Ukraine an. Es gab Tage, an denen wir im Zentrum von Kiew nur drei Stunden am Tag Strom hatten, meist mitten in der Nacht. An einigen Tagen gab es überhaupt keinen Strom. Das mobile Web war nahezu ein Totalausfall.

Hat sich die Lage inzwischen verbessert? Ja, das hat sie. Das hängt zum einen mit einer besseren Elektrizitätsversorgung in der Ukraine zusammen. Blackouts finden immer seltener statt. Unser Internet, das für uns Ukrainer essenziell ist, funktioniert nun zuverlässiger.

Was ist passiert? Wir haben uns ganz gut organisiert: Akkubetriebene Powerstations für Laptops und ein alternatives Internet, dessen Router über Powerbanks funktioniert, schaffen Abhilfe. Die Mobilfunkbetreiber haben zudem Akku-Systeme an wichtigen Mobilfunkpunkten installiert. Viele Behörden und sogar nationale Supermarktnetze stellen kostenlos Webzugänge sowie Arbeitsplätze mit Internet und Generatoren zur Verfügung. Viele kleine Unternehmen, zumindest in Kiew, verwenden Benzin-Generatoren. Größere Unternehmen nutzen den satellitengestützten Starlink-Webzugang und kaufen Generatoren für ihre Büros. Fast alle von uns, sofern es um Bürojobs geht, haben also die Möglichkeit zu arbeiten.

Wenn Sie sich die Kommunikationsbranche in der Ukraine anschauen: Wie stark hat die Branche bisher durch den Krieg gelitten? Der Krieg hat unsere Branche schwer beschädigt. Zum ersten Mal ist beispielsweise der Digitalmarkt in der Ukraine rückläufig gewesen. Ich rechne mit einem Minus von 30 Prozent im abgelaufenen Jahr. Das heißt, allen Anbietern im Web, also Unterhaltungsangeboten genauso wie den Nachrichten-Sites, fehlt ein Drittel des Umsatzes. Das entspricht dem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine, das wegen des Kriegs der Russen laut unserem Wirtschaftsministerium um 30,4 Prozent eingebrochen ist.

Wie haben sich die klassischen Medien in Ihrem Land entwickelt? Wir sehen überall Rückgänge. TV-Werbung hat sogar über 80 Prozent an Umsatz eingebüßt. Bei einer Flüchtlingszahl von sieben Millionen Ukrainern geht natürlich auch die Reichweite der Sender runter. Es können schlichtweg weniger Menschen bei uns Werbung ansehen als früher. Das mindert auch die Preise der Werbeplätze.
Ein guter Teil der globalen Werbungtreibenden hat jegliche Werbeaktivität eingestellt.
Anastasiya Baydachenko
Der Krieg ist unberechenbar. Haben Sie dennoch eine Prognose für das laufende Jahr aufgestellt? Und wenn ja, wie sieht diese aus? Ich gehe in diesem Jahr für die Kommunikationsbranche von einer Erholung aus. Für den Fall, dass der Krieg im 1. Halbjahr 2023 endet, rechne ich mit einem Zuwachs des digitalen Werbemarktes von 23 bis 25 Prozent. Die stark wachsende Digitalwerbung wird für Wachstum sorgen, davon bin ich überzeugt.

Und wenn der Krieg nicht bis zum Sommer endet? Auch dann können wir digital wachsen. Manche Kategorien wie Influencer Marketing zeigen sich seit Herbst stabil. Deshalb würde ich in dem Fall von einem insgesamten Plus zwischen 5 und 7 Prozent ausgehen.

Wie verhalten sich in der aktuell angespannten Lage die Werbekunden? Ein guter Teil der globalen Werbungtreibenden hat jegliche Werbeaktivität eingestellt. Der digitale Markt – und sicher auch die Offline-Medien – sind also dringend auf eine Wiederbelebung der Werbeaktivitäten angewiesen. Laut unserem "Digital Industry Barometer" vom November hatten 39 Prozent der Unternehmen ihre Business-Aktivitäten wieder zu 50 bis 75 Prozent hochgefahren, 44 Prozent gaben an, bei 75 Prozent oder mehr zu liegen. Was die Werbeaktivitäten betrifft, gab jedoch noch die Hälfte der Firmen weniger als die Hälfte dessen aus, was vor dem Krieg investiert wurde. Und das reißt große Löcher im Medienmarkt.

Wer hat sich aus dem Werbemarkt zurückgezogen, wer ist dabeigeblieben? Die Reaktionen der werbungtreibenden Unternehmen sind sehr durchwachsen und hängen natürlich auch von ihren Branchen ab. Unternehmen aus der Konsumgüterbranche oder der Pharmaindustrie schalten wieder Werbung; andere, etwa aus dem Automobilsektor, haben ihre Werbeaktivitäten weiterhin eingestellt. Aber auch wenn es wichtig wäre, dass gerade die internationalen Konzerne wieder auf den ukrainischen Werbemarkt zurückkehren, kann ich mit Fug und Recht behaupten: Unser Werbemarkt ist alles andere als tot.
Langsam geht es an die Substanz, das war deutlich in unserer November-Umfrage zu sehen.
Anastasiya Baydachenko
Wie agieren die Kommunikationsagenturen in dieser herausfordernden Situation? Langsam geht es an die Substanz, das war deutlich in unserer November-Umfrage zu sehen. Lange Zeit konnten die Digitalagenturen und Online-Anbieter ihr Personal weitgehend halten. Im Oktober gab jedoch ein Drittel an, dass sie aus Kostengründen Mitarbeiter entlassen mussten. Unter den Werbungtreibenden waren es 28 Prozent. Unter dem Strich beschäftigten alle Unternehmen aber seinerzeit noch rund 80 Prozent der Mitarbeiter:innen verglichen mit der Zeit vor Kriegsbeginn. Bei den Werbungtreibenden sieht es ähnlich aus, hier waren es Ende Oktober 81 Prozent. 26 Prozent des Agenturpersonals arbeitet nun remote von anderen Orten für die Unternehmen, 18 Prozent sind sogar ins Ausland gezogen.

Während die ukrainische Werbebranche strauchelt, erfindet Präsident Wolodymyr Selenskyj die Polit-Kommunikation neu. Wie beurteilen Sie als Werbeexpertin seine Auftritte, etwa bei den Filmfestspielen in Cannes oder gerade eben bei der Berlinale? Nach meiner Meinung ist unser Präsident ein großartiger Redner und phantastischer Botschafter des Landes. Er wird sein Bestes für die Ukraine tun, um sie zu vertreten. Seine durchdachten Reden und Auftritte sowie sein Kommunikationsstil sprechen für eine sehr offene und empathische Person. So gewinnt er die Herzen vieler Menschen – nicht nur in der Ukraine.

Wie wichtig sind Nachrichten im Moment? Nutzen die Menschen internationale oder deutsche Nachrichten? Den Nachrichten kommt eine extrem wichtige Rolle zu. Genutzt werden vor allem Telegram-Kanäle und die Accounts der offiziellen Stellen in sozialen Netzwerken. Ein Beispiel: Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko informiert die Bevölkerung über die Zerstörungen durch Raketenangriffe innerhalb weniger Minuten via Facebook, Telegram und über die offizielle App von Kiew, Kyiv Digital. Über Telegram erreichen uns die Nachrichten fast in Echtzeit. Aber auch die News und Kommentare der Newsseiten spielen eine wichtige Rolle. Ein Teil der Bevölkerung, ich gehe hier von etwa 15 Prozent aus, folgt auch den internationalen Nachrichten über Anbieter wie CNN, BBC oder die Deutsche Welle.

In Social Media wächst das Problem von Fake News. Wie gehen Sie in der Ukraine damit um? Es gibt jede Menge an Falschinformationen, die von russischer Seite gestreut werden. Es ist schwer zu verstehen, was wahr und was falsch ist. Aber wenn ich News mit der identischen Kernbotschaft von mehreren Accounts erhalte, dann ist es für mich ein Zeichen für eine geplante Desinformationskampagne. Ich als Werberin kann das decodieren. Aber für normale Bürger ist das oft schwer auseinanderzuhalten. Deshalb sind Falschinformationen ein großes Problem in diesen Zeiten – für alle von uns. bia, ems

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