Dieter Rappold und Ralf Heller wollen nützliche Werbung
Jeder Deutsche erhält ungefragt rund 3000 Werbebotschaften pro Tag, und die meisten davon sind relativ sinnfrei, glauben Ralf Heller und Dieter Rappold. Die beiden Geschäftsführer der Digital Agentur Virtual Identity plädieren für Werbung, die nicht nervt, sondern nützt.
Die Realität sehe meistens anders aus. Werber verhalten sich den Konsumenten gegenüber schon fast wie durchgeknallte Stalker. Wer abends den Fernseher einschaltet, bekommt oft drei- bis fünfmal die gleiche Werbebotschaft zu sehen. Im Internet wird der Nutzer wochenlang von den Schuhen verfolgt, die er schon längst gekauft hat. Und bevor er sich ein Video reinziehen kann, muss er erst einmal den Pre-Roll ertragen.
Die Folge: Die Zielgruppe wendet sich ab. "Wer die Wahl hat, entscheidet sich gegen Werbung", sagt Heller. Das treffe insbesondere auf die konsumkritische Generation Z zu: "Die Gefahr war noch nie so groß, dass Marken ihre Zielgruppe verlieren", warnen die beiden Werber. Statt nur zu senden, sollten Marken endlich damit anfangen zuzuhören und sich in ihre Zielgruppe einzufühlen. Wie das geht, erklären Heller und Rappold im Interview mit HORIZONT.
Sie sind als Werber von Werbung genervt. Warum?
Ralf Heller: Weil die immer gleiche Werbung heute überall ist. Vor 20 Jahren haben wir noch Eintritt gezahlt, um uns die Cannes-Rolle mit den besten Werbespots anzuschauen. Dafür würde heute wahrlich keiner mehr Geld ausgeben. Obwohl die Spots handwerklich besser und kommunikativ raffinierter geworden sind. Das Problem ist die Penetration. Jeder Deutsche erhält ungefragt rund 3000 Werbebotschaften pro Tag, und die meisten davon sind relativ sinnfrei.
Aber solche Werbung kommt nichtsdestoweniger an?
Heller: Vielleicht. Die Frage ist eher, bei wem und wie lange noch. Die Generation Y entzieht sich bewusst werbefinanzierten Medien. Weil sie es können, installieren sie Adblocker. Sie schauen Netflix und hören Spotify. Und selbst Facebook ist bei den ganz Jungen schon wieder durch. Sie nutzen lieber Snapchat und Whatsapp. Die Digital Natives sind bereit und finanziell in der Lage, 10 Euro monatlich für ein werbefreies Unterhaltungserlebnis zu bezahlen. Und sie tun es auch. In Deutschland wird Netflix 2020 – glaubt man aktuellen Prognosen – 11 Millionen Kunden haben. Kein Fernsehsender hat so eine Reichweite.
Dieter Rappold: In den einschlägigen Studien wird die Generation Y zudem als institutions- und konsumkritisch beschrieben. Was man ihnen erzählt, glauben sie also erst einmal nicht. Dem stehen jetzt diese rund 3000 Werbebotschaften pro Tag gegenüber. Die werden mit unfassbar viel Werbebudget zum Konsumenten transportiert, damit sie links zum Ohr reingehen und rechts wieder raus. Da müssen wir doch nachdenken!
Gastbeitrag
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Was ist Ihre Lösung?
Heller: Ein Patentrezept gibt es nicht. Wir müssen wohl eher lernen, damit umzugehen. Eine Möglichkeit ist ein Perspektivwechsel. In Deutschland werden jährlich circa 30 Milliarden Euro für Werbung ausgegeben. Was würde passieren, wenn Unternehmen 5 Prozent davon in Werbe-Ideen investieren, die ihren Zielgruppen helfen, ein Alltagsproblem zu lösen? 1,5 Milliarden Euro pro Jahr, um das Leben der Zielgruppen angenehmer zu gestalten. Diese Perspektive fanden wir so spannend, dass wir die UBX Konferenz initiiert haben. UBX steht für Useful Brand Experience und die Kernfrage lautet: Wie kann Markenkommunikation nützlich für ihre Zielgruppen werden?
Und, wie kann sie nützlich werden?
Rappold: Der digitale Wandel eröffnet uns eine Million neuer Möglichkeiten, Alltagsprobleme im digitalen Raum zu lösen. Wir haben diese neuen Technologien in der Vergangenheit aber nicht innovativ genutzt. Wir haben jetzt eine Dekade der Optimierung hinter uns, in der wir das Targeting verbessert und an der Performance gedreht und hier noch mal geschraubt haben, um 0,1 Prozent mehr rauszuholen, damit man dann erst recht nichts bewirkt. Mithilfe digitaler Technologie haben wir die Möglichkeit und die Chance, wirklich funktionalen Nutzwert zu schaffen.
Heller: Die Rahmenbedingungen für nützliche Markenkommunikation waren noch nie so gut: Wir können Anwendungen und Tools entwickeln, die vor Jahren noch unmöglich waren, und das so einfach wie noch nie. Das Smartphone ist zum "General Problem Solver" der Generation Y geworden, es ist ja fast schon ein Körperteil und verursacht Entzugserscheinungen, wenn es nicht verfügbar ist. Das Entscheidende, das diese Generation gelernt hat, ist: Wenn es ein Problem gibt, das digital lösbar ist, dann wird es digital gelöst. Sie können jetzt also eine App bauen, mit der sie lediglich unterhalten oder eine, die echten Mehrwert bringt. Dabei entsteht ein ganz neues Spielfeld für die Marketingkommunikation. Mit überschaubaren Investitionen können Marken Nützliches schaffen. Die Infrastruktur ist da. Ich glaube, dass es Marken, die in dieses Spiel eintreten, dabei hilft, wieder in Kontakt mit ihrer Zielgruppe zu kommen.
Die Rahmenbedingungen für nützliche Markenkommunikation waren noch nie so gut
Ralf Heller
Ist so ein Markeneffekt für den Auftraggeber deutlich messbar?
Heller: Natürlich muss sich für die Marken letztendlich auch immer alles rechnen. Ob das mit dieser Perspektive der Nützlichkeit gelingt, muss noch bewiesen werden. Es schadet aber sicher nicht, so zu denken und zu handeln. Einerseits schwingt hier die wachsende gesellschaftliche Verantwortung mit, die Konsumenten von Unternehmen mehr und mehr einfordern. Andererseits passiert der Marke mit Sicherheit nichts, wenn man auf ein paar Schaltungen verzichtet und stattdessen ausprobiert, ob man seine Zielgruppen mit einer nützlichen Werbung positiv überraschen kann. Bei Marken und Menschen ist das ja nicht viel anders als zwischen Menschen. Wenn mir jemand hilft, dann lasse ich den auch lieber an mich heran. Bei einer Party habe ich den Gast, der die ganze Zeit laut Witze erzählt, auch lieb, aber noch lieber ist mir der, der Witze erzählt und mir dann noch beim Aufräumen hilft. Auf diesen Gast freue ich mich besonders.
Wie bringen Sie Ihre Kunden nun dazu, beim Abwasch zu helfen?
Rappold: Indem wir ihnen helfen, sich in ihre Zielgruppen hineinzuversetzen und deren Alltagsprobleme zu erkennen. Natürlich können wir aus Studien oder Sinus-Milieus herauslesen, wo Zielgruppen sich bewegen, wie alt sie sind und was sie verdienen. Sie erfahren darin aber nicht, welche Alltagsprobleme die Zielgruppen haben und was wir ihnen Gutes tun könnten.
Heller: Wir bieten zum Beispiel Co-Creation-Workshops an, bei denen wir Auftraggeber und Zielgruppen in einem Raum zusammenbringen und in einem gemeinsamen kreativen Prozess herausfinden, was die Probleme der Zielgruppen sind, was sie nervt, was sie brauchen und wie eine Lösung aussehen könnte, die weiterhilft. Es wäre völlig illusorisch, dass wir alle Alltagsprobleme kennen, die die verschiedensten Zielgruppen bewegen. Aber wir können neugierig sein, und wir können unsere Kunden ermutigen, neugierig zu werden und den Dialog zu suchen mit diesen Menschen und nicht nur Desk Research und Mediadaten zu vertrauen. Man glaubt kaum, wie wenig Kontakt Marketingkommunikation mit den Zielgruppen hat.
vg